Open Codes?

17. Juni bis 2. Juli 2019

Ausstellung in Zusammenarbeit mit dem Zentrum für Kunst und Medien (ZKM), Karlsruhe

Der Kunstraum der Leuphana Universität Lüneburg präsentiert vom 13. Juni bis zum 2. Juli eine adaptierte Fassung der am Karlsruher Zentrum für Kunst und Medien (ZKM) von Peter Weibel als Kurator entwickelten Ausstellung „Open Codes“. Gezeigt wird eine Auswahl von Werken, die sich mit gesellschaftlichen und kulturellen Auswirkungen des Einsatzes aktueller Technologien der Codierung beschaeftigen. Erkundete das ZKM in breit angelegtem Rahmen, welche Effekte diese auf die visuelle Kultur haben und noch haben werden, so setzt die in Lueneburg von Cheryce von Xylander, Clemens Kruemmel und Studierenden des Master „Culture, Arts and Media“ konzipierte Satellitenausstellung im Kunstraum den Akzent auf eine „Digital History“, die nach der von Cheryce von Xylander vertretenen These bereits im kantischen Vernunftbegriff ansetzt.

Wir leben in einer Welt, die von Daten erzeugt, gesteuert und kontrolliert wird. Digitale Codes praegen unsere Gegenwart und haben tiefgreifenden Einfluss auf sämtliche Bereiche unseres Lebens, auf Wirtschaft und Gesellschaft, Kultur, Politik und Justiz sowie auf den Alltag. Sie werfen Fragen auf wie: Wer ist für selbstlernende Software rechenschaftspflichtig? Wie kann man Algorithmen fassen und wie sind ihre intellektuellen Fähigkeiten juristisch zu bewerten? Wie sollen Bürger*innen sowie Institutionen in Zukunft mit ihren Daten umgehen? Wie sollen algorithmische Verarbeitungsprozesse gesetzlich reguliert werden? Welche Rolle spielt in diesen gesellschaftlichen Prozessen künstlerisches Denken und in welches Verhältnis setzt es sich zu avancierten digitalen Technologien?

Die Lüneburger Ausstellung sucht nach Möglichkeiten einer lebendigen räumlichen, diskursiven und textuellen Verknüpfung von künstlerischen Themen und Motiven im Zeichen ihrer historischen Verfasstheit. In den künstlerischen Werken der Lüneburger Fassung von „Open Codes“ gewinnen insbesondere Beziehungen zwischen Betrachter*innen sowie sprachlichen und physischen Räumen digitaler Codes auf unterschiedliche Art intellektuell und sinnlich erfahrbare Form. Dies geschieht innerhalb der für zeitgenössische Kunst idiomatischen Werkstrukturen des Installativen und der Interaktivität, die unter anderem Resultat technologischer Entwicklungen computergestützter Bildverfahren und künstlicher Intelligenzen sind. Insbesondere markiert die Leuphana-Ausstellung eine distinktive Perspektive: Sie erprobt was synchrone Gestaltungsprinzipien der Allmacht diachroner Gegenwartsfantasien entgegenhalten können.

Empfangen werden die Besucher*innen der Ausstellung beim Betreten des Kunstraum durch den interaktiven Bildschirm der Arbeit „Style Transfer“ (2018) der Künstler Boris Neubert, Chengzhi Wu und Max Piochowiak. Darin wird deren vertikales Kamerabild – im Modus ästhetischer Konventionen der zeitgenoessischen Netzwelt wie Instagram oder Snapchat – unverzüglich in sukzessive wechselnde grafische Texturfilter „übersetzt“. Diese werden mithilfe von Technologien der „Deep Neural Networks“ so rasend schnell generiert, dass der subjektive Eindruck absoluter Synchronizitaet entstehen kann. Strukturell erinnert das Erleben an die historischen Spiegelkabinette auf Jahrmärkten, in denen das Abbild der Besucher*innen als spektakuläre Verzerrung für ungläubiges Staunen sorgte. In dem Kontext von „Open Codes“ markiert die Installation zudem einen zeitgenössischen visuellen Modestil, das atemberaubende Tempo visueller Übertragungen heutiger Bildtechniken. Es deutet auch simpel und unmissverständlich auf die farbig schillernden Oberflächen, unter denen sich das „neue“ Unheimliche der Digitalität verbirgt.

„Column 1-0“ (2016/17) des Künstlers Solimán López heisst der von der Decke abhängende, raumhohe Farbdruck einer computergrafisch generierten Säule, in deren Mitte die animierte Sequenz ihrer digitalen Codierung orthogonal projiziert wird. Diese Arbeit setzt auf die bewusst als Konflikt ästhetisierte Begegnung eines architektonischen Superzeichens traditioneller europäischer Architektur mit deren von Menschen nicht mehr „lesbaren“ Übersetzung in Binärcode. Ihre Besonderheit liegt in einer mit vordigitalen Erfahrungen kompatiblen Zugänglichkeit und intuitiven Verständlichkeit des in ihr repräsentierten dynamischen Verhältnisses der Auffassungen von Sprache, Raumerfahrung und Kodierung. Hier treffen synchrone und diachrone Figurationen mit besonderer Deutlichkeit aufeinander.

Auf ganz andere Weise findet eine Übersetzung im „Book of Genome PCC / Decode – PCC“ (2016) von Koen Vanmechelen statt – nämlich als symbolische und performative Aneignung. Mit der in Buchform ausgedruckten Genomcode-Sequenz eines Huhns wird die unfassbar lange Zeichenkette zunächst auf eine vertraut scheinende Form der Verfügbarmachung von Wissen – nämlich das Buch – übertragen. Auf einem daneben platzierten Bildschirm führen Vorleser*innen einer Ausdauer-Performance in diversen sprachlichen und kulturellen Kontexten das Lesen selbst ad absurdum. Ein Schauspiel entsteht, das jenen Bruch im Verstehen der digitalen Gegenwart reproduziert, das zwischen altbekannten und neuen Codesprachen die Grenzen individuell-menschlicher Erfahrung mit absteckt.

Das aus einem offenen Kubus abgeleitete Modul der computerbasierten Installation „Alphabet Space“ (2017) von Adam Słowik, Christian Loelkes und Peter Weibel gibt den Besucher*innen buchstäblich ein Code generierendes Werkzeug in die Hände und macht so den „Digital Divide“ historischer und zeitgenössischer Erfahrungsmodi direkt greifbar. Die ursprüngliche, von Słowik geschaffene Kubus-Skulptur liess sich bereits unter Nutzung einer Lichtquelle so drehen und wenden, dass sämtliche Buchstaben des Alphabets als lesbare Schattenprojektionen an einer Wand produzierbar wurden. Dieses Modul mag seine historischen Bezüge in den „Incomplete Open Cubes“ des Konzeptkünstlers Sol LeWitt oder in den Würfelpermutationen des Computergrafik-Pioniers Manfred Mohr haben – in seiner heutigen Form verschwimmen die Grenzen zwischen künstlerisch-skulpturalen und designtechnisch-funktionalen Bezügen. Mit dem von Peter Weibel erdachten Konzept wurde diese Arbeit erweitert und in den zeitgenössischen Raum „digitaler Schatten“ überfuehrt. Seine von Christian Loelkes umgesetzte Konzeption macht das Modul mithilfe eines eingebauten Gyroskops zum Interface. Durch dieses werden Manipulationsbewegungen der Nutzer*innen drahtlos an eine Computerscreen gesendet, um zur alphabetischen Zeichenkette und damit zum lesbaren Text werden zu können. Die intuitive körperliche Interaktion der Nutzer*innen mit Modul und Bildschirm gerät zur tänzerischen Aufführung, zur Schreib-Performance im Raum.

„XML – SVG Code – Quellcode des Ausstellungsraums“ (2010/2019) von Karin Sander greift die Architektur des Kunstraum der Leuphana auf. Diese Arbeit transferiert dem Boden entnommene Masse, mit allen Ecken und Einbuchtungen der Bodenplatte, in jenen Quellcode, der die Grundlage heutiger computergrafischer Architektur-Renderings liefert. Der exakte, mit Folienplots ausgeschriebene Code bedeckt nun den Boden, der sich aus besagtem architektonischen Zeichensystem grafisch wiedererschaffen liesse. Der wie ein Flächenmuster wirkende Schriftteppich wird als ein von allen begehbares Element des Kunstraum und somit als Produkt von Zahlen- und Zeichensystemen unmittelbar erfahrbar.

Der anlässlich der Eröffnung gezeigte Film „Geomancer“ von Lawrence Lek schliesslich stellt in einer Folge avancierter computergrafischer Animationen komplexer architektonischer Innenräume endlose Drohnenflüge durch kapitalistische Offshore-Casino- und Megacity-Architekturen dar. Deren digitale Rationalität wird durch eine beständige kritische Narration aus dem Off analysiert und reflektiert, was zugleich einen differenzierten Interpretationsweg zu den ökonomischen, politischen und individuellen Risiken der digitalen Weltökonomien eröffnet.

Die Lüneburger Interpretation von „Open Codes“ stützt sich auf künstlerische Auffassungen der Herausforderung, die heutige Verfahren der Codierung für die gelebte Vernunft bedeuten. Sie bezieht sich dabei auf den von Immanuel Kants Werk markierten historischen Aufbruch zum Denken der Aufklärung. Im deutungstheoretischen Zentrum der Ausstellung steht Immanuel Kants Aufsatz „Was heisst: sich im Denken orientieren?“ (1786). Nur ein einziges Wort im Titel muss ausgewechselt werden, um den Text als Bedienungsanleitung für mündige Bürger*innen im Zeitalter ubiquitärer Vernetzung lesen zu können. „Was heisst: sich im Cyberspace orientieren?“ Mit diesem kuratorischen Hinweis verwandeln sich Kants philosophische Überlegungen in ein Brennglas, das gegenwärtige Entwicklungen auf erstaunliche Weise zu bündeln scheint, da es diese historisch bereits vorwegnimmt. Und noch einmal bedarf es nur eines kleinen redaktionellen Eingriffs, um die mitunter veralteten Höflichkeitsformen der sprachlichen Geste des Kant Aufsatzes von 1786 zu aktualisieren:

„Männer, Frauen und LGBTQ+ von Geistesfähigkeiten und von erweiterten Gesinnungen! Ich verehre eure Talente und liebe euer Menschengefühl. Aber habt ihr auch wohl überlegt, was ihr tut, und wo es mit euren Angriffen auf die Vernunft hinaus will? Ohne Zweifel wollt ihr, dass Freiheit zu denken ungekränkt erhalten werde; denn ohne diese würde es selbst mit euren freien Schwüngen des Genies bald ein Ende haben… Und so zerstört Freiheit im Denken, wenn sie sogar unabhängig von Gesetzen der Vernunft verfahren will, endlich sich selbst.“

Die Zusammenführung von Kant und Digitalität geschieht im Rahmen von „Open Codes?“ weder in normativer noch affirmativer Absicht. Denn es stehen erhebliche Vorwürfe gegen den deutschen Aufklärungsdenker im Raum. Sein ideelles Erbe wird momentan gründlich auf sexistische, klassistische, rassistische und eurozentrische Inhalte untersucht. Zweifelsohne steht eine zeitgemässe Auslegung der staatstragenden Lektüre noch aus.1 Kant hatte aber auch eine unmittelbar ingenieurstechnische Wirkung auf die Nachwelt. Sicher verfügten weder er noch seine Zeitgenoss*innen über mobile Medien. Es ist auch nicht bekannt, dass sie etwa das Aufkommen des Smartphones als mobilem Allround-Talent vorhergesehen hätten. Dennoch scheint ein durch Suchmaschinen erschlossener Wissensraum geradezu als Sinnbild jener Unmündigkeit gedient zu haben, die Kant zeitlebens beschäftigt hat. Oder, wie er in dem berühmten Aufsatz „Was ist Aufklärung?“ (1784) schreibt:

„Habe ich ein Buch, das für mich Verstand hat, einen Seelsorger, der für mich Gewissen hat, einen Arzt, der für mich die Diät beurteilt und so weiter, so brauche ich mich ja nicht selbst zu bemühen.“

Kants Leistungen im Bereich der kognitionstheoretischen Bestimmung des Erkenntnisvermögens waren zukunftsweisend. Von Xylanders heterodoxe Auslegung — welche den Philosophen als Cyberdenker und die Neuen Medien im Zeichen ihrer Aufklärungsdiachronie, also historisch in diesem Sinne, fasst — lädt ein zu eingehender wissenschaftlicher und künstlerischer Betrachtung im Lichte der medientechnologischen Transformation unserer Erfahrungswelt. Denn Kant modellierte bereits 1781 die Vernunft als Emergenzphänomen und versuchte ihrem „mechanischen“ und „heuristischen“ Gehalt gerecht zu werden. Er prägte den Begriff der „Selbstorganisation“ und schuf dafür eigens einen Neologismus2. Er beobachtete das Spektakel des durch Europa reisenden und die Zuschauer*innen in Aufruhr versetzenden, schachspielenden Automaten – den berühmt-berüchtigten „Mechanischen Türken“ – und prognostizierte auf dessen Grundlage eine zukünftige, künstliche Intelligenz, die in einem Wechselspiel von menschlichem und maschinellem Kalkül bestehen würde3. Tatsächlich bietet Amazon inzwischen mit „Mechanical Turk“ eine Dienstleistung an, die als Online-Urteilsbörse fungiert und menschliche Urteilsfähigkeit den rechnerischen Vorgaben nicht nur zur Verfügung stellt, sondern, längerfristig, auch strukturell unterwirft. In der Arbeitsteilung der Denkkraft wird das Autonomie-Prinzip tendenziell wert(e)schöpfend vereinnahmt.

Grundstrukturen wissenschaftlichen und künstlerischen Denkens zu Codierung und multi-modaler Öffentlichkeit laufen in der Kunstraum-Fassung von „Open Codes“ zusammen. Was der Leuphana Spin-Off der ZKM-Ausstellung verdeutlicht ist die historische Achse des Gemeinsamen: Kants programmatische Schriften und der „Open Codes“-Anspruch, ein Bürgerforum zu schaffen, sind einem gemeinsamen, tentativen Vernunftglauben verpflichtet.

Nach der Ausstellung im Kunstraum der Leuphana Universität reist „Open Codes“ weiter nach Schanghai und Mumbai.

Open Codes, ZKM Karlsruhe

Peter Weibel (Kurator)

Open Codes?, Kunstraum Leuphana Universität Lüneburg

kuratiert von Clemens Krümmel und Cheryce von Xylander

unter Mitwirkung der Teilnehmer*innen des Master-Seminars „Ausstellen der Digitalität in ‚Open Codes‘ und in anderen Kontexten“, geleitet von Clemens Krümmel und Cheryce von Xylander

Organisation: Leuphana Universität Lüneburg und ZKM | Zentrum für Kunst und Medien Karlsruhe

Die „Open Codes?“ Ausstellung im Kunstraum wird dankenswerter Weise gefördert durch IGTech GmbH Hamburg.
Das Catering für die Eröffnung und die tägliche Versorgung der „Open Codes?“ Ausstellung wird freundlicher Weise von Lecker Bäcker (Lüneburg) bereitgestellt.