Ökonomien des Elends

Pierre Bourdieu in Algerien
28. Mai bis 8. Juli 2005

Eine Ausstellung mit Fotografien von Pierre Bourdieu

In Zusammenarbeit mit Camera Austria Graz (Christine Frisinghelli), der Universität Genf, Départment de Sociologie (Franz Schultheis) und der Fondation Pierre Bourdieu, Genf
https://camera-austria.at

Das Werk des Soziologen, Ethnologen und Philosophen Pierre Bourdieu (1930-2002) umfasst auch bedeutende Arbeiten zur Fotografie. Vor allem die unter dem Titel „Un art moyen, essai sur les usages sociaux de la photographie“ (1965) publizierte Studie über die sozialen Gebrauchsweisen der Fotografie, die er gemeinsam u. a. mit Luc Boltanski und Robert Castel verfasste, wurde weit über das wissenschaftliche Feld hinaus rezipiert. Noch vor dieser Studie, in den Jahren 1958-1961, bediente sich Bourdieu selbst der Kamera in seiner Feldforschung zur Zeit des algerischen Unabhängigkeitskrieges gegen die Kolonialmacht Frankreich (1954-1962). Dieser Krieg prägte das Selbstverständnis und die politischen Orientierungen vieler der über Frankreich hinaus bekannten französischen Intellektuellen der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts entscheidend, was auch für Bourdieu gilt.

Bourdieu befasste sich in teilweise scharfer Abgrenzung zu den einflussreichen Einschätzungen von Frantz Fanon und Jean-Paul Sartre insbesondere mit den Folgen der „Modernisierung“ bzw. „Dekulturalisierung“ Algeriens unter kolonialen Bedingungen, aber auch mit den Effekten des Krieges, in den Frankreich im Interesse der Erhaltung seines letzten Mahgreb-Landes nicht weniger als 2 Millionen Soldaten geworfen hatte. Dabei widmete sich Bourdieu den Absichten und Effekten der von Frankreich aus militärischen Gründen erzwungenen Umsiedlung von einem Viertel der algerischen Bevölkerung. Diese wurde in dem 1964 erschienenen Band mit dem Titel „Le Deracinement“ (Die Entwurzelung) dargestellt und analysiert. Die Erhebungen und Analysen wurden in gemeinsamer Forschung mit Abdelmalek Sayad durchgeführt, der auch über seine Studien über die maghrebinische Diaspora bekannt ist. Der algerische Soziologe bereicherte Bourdieus Ansatz um die Perspektive einer „inversen“ Ethnologie und Soziologie.

Bei den Studien in Algerien handelt es sich um Bourdieus frühestes, aber, wie er selbst - in Zusammenhang mit der Studie „La Misère du Monde“ (Paris 1993) - meinte, auch aktuellstes Werk. Aus den Jahren 1958-1961 stammt ein Fotoarchiv von Bourdieu, das rd. 2000 Bilder umfasste. In seinen letzten Lebensjahren hat Bourdieu den erhalten gebliebenen Teil dieses Archivs von rd. 650 Negativen und 140 Abzügen Franz Schultheis bzw. der Fondation Pierre Bourdieu (Genf) und Camera Austria, Graz (Christine Frisinghelli) u. a. mit dem Ziel anvertraut, diese Fotografien im Rahmen von Ausstellungen und Publikationen der Öffentlichkeit zugänglich zu machen.

Nachdem mit der Ausstellung und dem gleichnamigen Buch „Pierre Bourdieu. In Algerien. Zeugnisse der Entwurzelung“ (Edition Camera Austria, Graz 2003) Teile dieses Archivs im Kontext von Studien Bourdieus zu Algerien im Jahre 2003 in Paris und Graz, und in der Folge u.a. in Tokio, Seoul, London, Umeå, Genf, Freiburg und München zu sehen waren, werden nun 44 ausgewählte Fotografien im Kunstraum der Universität Lüneburg gezeigt. In enger Zusammenarbeit mit Christine Frisinghelli und Franz Schultheis erfolgte eine thematische Konzentration auf jene „Ökonomien des Elends“, die in Zusammenhang mit Modernisierung, aufgezwungener Innovation, Dekulturalisierung, Kolonialismus und Krieg entstanden. Sie gehen zum einen wesentlich auf die Wanderungen der „entbäuerlichten Bauern“ (Bourdieu) in die algerischen Zentren zurück, wo sie ein Sub- und Semiproletariat von Arbeitslosen und Kleinhändlern bildeten. Angesichts ihrer Existenzbedingungen verbreitete sich unter ihnen ein „regressiver Traditionalismus der Hoffnungslosigkeit“. Zum anderen ist in diesem Zusammenhang an die erzwungene Umsiedlung der algerischen Bevölkerung in mehrere tausend neu errichtete Lager (Centres de regroupement) zu denken, die mit der Absicht errichtet wurden, den Widerstand zu brechen und die Guerillakämpfer zu isolieren. Bourdieu und Sayad sprachen von einer Bevölkerungsverschiebung, die „zu den brutalsten zählt, welche die Geschichte kennt“ und von „einer pathologischen Antwort auf die tödliche Krise des Kolonialsystems“ (vgl. Le Deracinement. Paris 1964, S. 13, 27).

Pierre Bourdieu kam in seinen Analysen zu ganz anderen Schlussfolgerungen als Frantz Fanon in „Les Damnés de la Terre“ (Paris 1961) oder Jean-Paul Sartre, der das kaum minder berühmte Vorwort zu Fanons Studie verfasste, die zu den Hauptwerken des tiers-mondialisme wie auch der postkolonialen Studien zählt. Bourdieu versuchte die damals unter dem Eindruck der sowjetischen und chinesischen Erfahrungen drängend erscheinenden, nahezu metaphysischen Fragen, ob das Proletariat, das Subproletariat oder die Bauernschaft die revolutionäre Klasse in der Dritten Welt seien, in wissenschaftliche Begriffe zu übersetzen. Auf Grund der Ergebnisse seiner empirischen Studien sah er im Gegensatz zu Fanon und Sartre weder in den entwurzelten Bauern, noch im neu entstandenen, prekarisierten städtischen Subproletariat eine Kraft, welche die Revolution in Algerien tragen könnte. Diese Einschätzung sollte sich realpolitisch bereits bald nach dem Kampf um die Unabhängigkeit, der auf der Seite der Algerier eine Million Opfer forderte, bestätigen.

Bourdieu versuchte mit seinen Studien auch die Logik des Übergangs von der vorkapitalistischen in eine kapitalistische Ökonomie zu verstehen, also die Überwindung der „Tradition“ durch die „Moderne“, wie es in der in den 1950er Jahren im Rahmen des Entwicklungsdiskurses aufgekommenen soziologischen „Modernisierungstheorie“ hiess. Unter Rückgriff auf den theoretischen Bezugsrahmen von Durkheim wurde die aufgezwungene Modernisierung als „eine pathologische Beschleunigung des kulturellen Wandels“ interpretiert. Die Ausstellung lenkt die Aufmerksamkeit auch auf die der algerischen Gesellschaft auferlegte Modernisierung in Form der Einführung einer industrialisierten Landwirtschaft, welche sich in Bourdieus Archiv in Gestalt von Bildern niedergeschlagen hat, die Mensch-Maschinen Hybriden im Tal von Mitidja bei der Arbeit zeigen.

Zumindest eine von Bourdieus Algerienstudien ist mittlerweile auch in deutscher Übersetzung verfügbar: „Pierre Bourdieu, Die zwei Gesichter der Arbeit. Interdependenzen von Zeit- und Wirtschaftsstrukturen am Beispiel einer Ethnologie der algerischen Übergangsgesellschaft“. Konstanz 2000: Universitätsverlag Konstanz, ISBN: 3-87940-664-2). Sie fügt sich unmittelbar in die aktuellen Diskurse um Kultur und Entwicklung ein.

Ausserdem sei auf die Publikation „Pierre Bourdieu. In Algerien. Zeugnisse der Entwurzelung“ (240 Seiten, 170 SW-Abbildungen. Edition Camera Austria, Graz 2003. ISBN: 3-900508-47-X), herausgegeben von Franz Schultheis und Christine Frisinghelli, verwiesen. In ihr findet sich neben einem ausführlichen Gespräch mit Pierre Bourdieu über seine fotografische Arbeit in Algerien u. a. auch eine deutsche Übersetzung eines Kapitels aus „Le Deracinement“ von Bourdieu und Sayad.


Gefördert durch die Finanzgruppe des Sparkasse-Kulturfonds