Der Campus als Kunstwerk
Abteilung Prototypen
Oktober 1996 bis Februar 1999
Eine künstlerische Arbeit in zwei Teilen mit Christian Philipp Müller
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»Anyone who has walked along the Lawn at the University of Virginia, the National Mall in Washington, D.C., or New York City’s Central Park has an intuitive recognition and memory of the unique size and scale of these great public places. Each of us.possesses a collection of such spatial memories that provide internal references for the relative size of different environments.« Ayers, Saint, Gross, July 1997
Welchen Einfluß haben Architektur und Ästhetik auf das Verhalten und die Erinnerung des Menschen? Diese Frage ist Ausgangspunkt von Christian Philipp Müllers künstlerischem Projekt »Der Campus als Kunstwerk. Abteilung Prototypen. Eine künstlerische Arbeit in zwei Teilen«. Zentrales Thema ist die Beziehung zwischen Architektur, Gesellschaft und Bildungsidealen, veranschaulicht am Beispiel der Universität Lüneburg. Ausgehend von ihrem äußeren Erscheinungsbild, der Gesamtanlage und den zugrunde liegenden urbanistischen, architektonischen, künstlerischen und organisatorischen Strukturen, untersucht Müller ihr Profil.
Der erste Teil des Projekts ist als umfassende Feldstudie angelegt: Müller vergleicht weltweit circa einhundert Universitäten mit dem Lüneburger Campus. Durch Überschneidungen, Verschiebungen und Differenzen werden Eigenheiten sichtbar, verdichtet sich das Bild einer Universität, die nach dem Umzug auf das Gelände der ehemaligen Scharnhorst-Kaserne am Stadtrand ein neues Selbstverständnis entwickelt.
Wichtiger Bezugspunkt für Müllers Projekt ist Thomas Jeffersons Idealplan der Universität von Virginia 1817. Als einer der ersten Gesamtentwürfe reflektiert er die damaligen aufklärerischen Bildungs- und Gesellschaftsideale. In der Abgeschiedenheit der Wildnis auf freiem Feld - dem Campus - errichtet, repräsentiert Virginia das Modell einer in sich geschlossenen (idealen) Gemeinschaft, die Wissen und Bildung in ihren Mittelpunkt stellt: eine Wertschätzung, die durch die zentrale Lage der Bibliothek aufgegriffen wird.
Entsprechend wählte Müller die Bibliothek zum inhaltlichen und formalen Angelpunkt. Auf insgesamt einhundert Siebdrucken überblendet er den Lageplan des Lüneburger Campus mit dem einer anderen Universität; die Bibliotheken liegen dabei stets übereinander. In mattem Beige gedruckt, verschwinden die Lagepläne der Vergleichsuniversitäten fast unter dem offensiv glänzenden Rot der Lüneburger Anlage: Diese prägt sich durch konsequente Wiederholung in die Erinnerung der Bibliotheksbesucher ein.
Auch die insgesamt 15 Kategorien, in die die Universitäten gegliedert sind, verweisen auf die Lüneburger Universität: auf Geschichte, Lehrinhalte, urbanistische, architektonische, künstlerische und organisatorische Eigenheiten. Durch die serielle Hängung der Siebdrucke und die dabei beobachtbaren Abweichungen voneinander wird jedoch auch deutlich, daß idealtypische Entwürfe im Laufe der Geschichte modifiziert und durch andere Vorstellungen und Materialisierungen überlagert werden: Sie sind-Teil eines letztlich unabschließbaren Prozesses.
Einen Gegenpol zu der stark abstrahierten, geradezu minimalistischen Formensprache der Siebdrucke ebenso wie zu ihrer klar gegliederten Hängung schafft Müller durch die Vitrine im Foyer der Bibliothek. Bemerkenswerte Originalpläne, Architekturblaupausen, Broschüren, Selbstdarstellungen und Postkarten von Universitäten finden sich hier ebenso wie Fotografien, die der Künstler bei seinen Besuchen der Universitätsanlagen aufgenommen hat: ein Sammelsurium an Materialien in unterschiedlichsten ästhetischen Formgebungen, das eher an die subjektive Logik der Wunderkammern im 17. und 18. Jahrhundert erinnert als an die rationalen Ordnungen der Wissenschaften, denen letztlich auch eine Universitätsbibliothek folgt.
Die »Abteilung Prototypen« nähert sich in spielerisch-experimenteller Form Fragen, die sich auf die Identifikation der Mitglieder der Universität mit ihrer Institution beziehen. Anregung boten »giftshops«, Läden, in denen vor allem nordamerikanische Universitäten Kleidungsstücke und Gebrauchsgegenstände zum Verkauf anbieten, die mit dem Schriftzug oder Logo der Institution bedruckt sind. In jüngster Zeit kommt diese Marketingstrategie in zunehmendem Maße auch an deutschen Universitäten zum Einsatz. Sie verfolgt verschiedene Ziele, universitäre Eigenwerbung ebenso wie die Erwirtschaftung zusätzlicher finanzieller Spielräume oder die Schaffung eines Zugehörigkeitsgefühls unter den Angehörigen und Nutzern der Universität.
Gemeinsam mit der Projektgruppe hat Christian Philipp Müller im Eingangsbereich des Rechenzentrums.(Haus 7 auf dem Universitäts-Campus) einen von außen einsehbaren Raum eingerichtet, in dem an die 200 solcher Artikel zu sehen sind. Es handelt sich um Prototypen, ihr jeweiliger Aufdruck wurde im Rahmen der Projektarbeit entwickelt: Jedem der vier Fachbereiche der Universität wurde zur symbolischen Charakterisierung eine Schrifttype zugeordnet. Die bereits bestehenden Logos und Schriftzüge der verschiedenen universitären Einrichtungen und studentischen Initiativen wurden durch sie abgewandelt. Für universitätsübergreifende Organisationsformen fand zusätzlich eine fünfte Schriftart Verwendung, deren Name »lvy League« auf die Elite-Universitäten der USA anspielt. Eine Neuschöpfung des Künstlers ist das Universitäts-Kürzel »ULG«.
Ausgewählt wurden nur Gegenstände mit Bezug zum alltäglichen Leben auf dem Lüneburger Campus. Kugelschreiber oder Mousepads sind ebenso vertreten wie T-Shirts, Fahrrad-Helme, Becher, Regenschirme und Babystrampler. Die farbliche Beschränkung der Designvarianten auf Weiß, Schwarz, Rot und Beige schafft zusammen mit der Möblierung des Raums die ästhetische Verbindung der »Abteilung Prototypen« zu der Installation in der Bibliothek. Auf Regalen, Arbeitsplatte, Vitrine und Pinwand verteilt, vermeidet die Anordnung der einzelnen Unikate den Chic eines Showrooms. Vermittelt wird vielmehr der Eindruck einer geöffneten Werkstatt.
Einen virtuellen Schauraum bietet dagegen die eigens eingerichtete Website. Unter den Links »office«, »gifts« und »clothing« sind die Nutzer zu einer Shopping-Tour im Internet eingeladen. Doch bleibt es beim Window-Shopping, die suggerierte Möglichkeit, die Objekte als Zeichen der Zugehörigkeit zu erwerben, läßt sich nicht umsetzen. Zur Disposition steht damit vor allem die Strategie, den Wunsch nach Identifikation kommerziell nutzbar zu machen.
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Christian Philipp Müller, 1957 in der Schweiz geboren, studierte an der »F +F« in Zürich und an der Akademie in Düsseldorf. Besonders erwähnenswert unter seinen zahlreichen Einzelausstellungen sind »Feste Werte« im Palais des Beaux-Arts, Brüssel (1991/92), »Vergessene Zukunft« im Kunstverein München (1992) und »Was nahe liegt, ist doch so fern - die Konstruktion der Hamburger Kunstmeile« im Kunstverein in Hamburg (1997). Müller war 1993 Teilnehmer der 45. Biennale von Venedig sowie 1997 der documenta X in Kassel.
Den Auftakt zu dem Projekt »Der Campus als Kunstwerk« machte Christian Philipp Müller im Herbst 1996 mit einem einführenden Vortrag. Gemeinsam mit den TeilnehmerInnen eines. Seminars, das unter der Leitung von Beatrice von Bismarck, Diethelm Stoller und Ulf Wuggenig die Projektarbeit begleitete, entwickelte Christian Philipp Müller in den folgenden vier Semestern beide Teile des Projekts. Aus diesem Seminar ging auch. die Gruppe der Studierenden hervor, die gemeinsam mit dem Künstler die »Abteilung Prototypen« erarbeitete. Zu ihr gehörten Thorsten Clauszen, Jan Haack, Axel Köhne, Florian Kundt, Uwe Lewitzky, Karin, Prätorius und Annika Rieke. Die Website erstellten Karin Händel, Wibke Larink und Marco Sigmann. Marc-Christian Rossig war seit dem Sommer 1997 verantwortlich für die Recherchen zu den Universitätsplänen. lm Herbst 1997 wurde die Kulturwissenschaftlerin Astrid Wege eingeladen, die Texte zu den Universitätskategorien zu schreiben.
Die Internet-Gruppe möchte sich bei Eleonore Wrobel, Stephan Michalik, Gunnar Tuschy und Andrew Sinn für die freundliche Mithilfe bedanken.
Publikation: Beatrice von Bismarck, Diethelm Stoller, Astrid Wege, Ulf Wuggenig (Hg.): Branding the Campus: Kunst, Architektur, Design, Identitätspolitik, Düsseldorf: Richter Verlag, 2001.
Das Projekt wurde ermöglicht durch die Niedersächsische Gesellschaft für Landesentwicklung und Wohnungsbau m.b.H. (NILEG).