Zweiter Kongress der Kulturwissenschaftlichen Gesellschaft. Migration und Europa in kulturwissenschaftlicher Perspektive
Kongress
6. bis 8. Oktober 2016
Engfügung migrantischer und filmischer Praxen am Beispiel von harraga
Vortrag von Brigitta Kuster mit anschließender Diskussion
Freitag, 7. Oktober 2016, 14:00–15.45 h
Sitzung der Sektion »Kulturwissenschaftliche Ästhetik«
Diskussion des Papiers von Susanne Leeb und Ruth Sonderegger »Plädoyer für eine kulturwissenschaftliche Ästhetik aus Perspektive der cultural studies«
Freitag, 7. Oktober 2016, 16:15–17:30 h
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Der Kunstraum der Leuphana Universität Lüneburg beteiligt sich auch am 2. Kongress der Kulturwissenschaftlichen Gesellschaft (KGW). Der unter das Thema »Migration und Europa in kulturwissenschaftlicher Perspektive« gestellte Kongress findet vom 6. bis 8. Oktober 2016 an der Universität Vechta statt (hier). Für das erste von zwei Treffen der Sektion »Kulturwissenschaftliche Ästhetik« am Kongress wurde von dessen Sprecher_innen (Amalia Barboza, Uni Saarbrücken, Stefan Krankenhagen, Universität Hildesheim und Ulf Wuggenig, Kunstraum der Leuphana Universität Lüneburg) für den 7. Oktober Brigitta Kuster (Berlin) zu einem Vortrag mit Diskussion eingeladen.
Zu ihrer Präsentation mit dem Titel »Engfügung migrantischer und filmischer Praxen am Beispiel von harraga« schreibt Brigitta Kuster: »Im Resonanzraum der großen Fährschiffe der Moderne und der nostalgischen franko-arabisch/kabylisch/berberischen Musiken des Exils tauchen heute Clips auf, welche die gefährlichen Meeresüberfahrten mit windigen Booten zeigen, die die ›undokumentierten‹ Migrant*innen mit ihren Mobiltelefonen selber aufnehmen und auf YouTube verbreiten. Harraga heißen diese Akteur*innen, die seit den 1990er Jahren die alltags- und popkulturelle Bühne betreten haben – ein Begriff, der auf Arabisch »die, welche verbrennen« bedeutet und jene, meist jungen Frauen und Männer meint, die ihre Ausweise und persönlichen Dokumente verbrennen, um mit behelfsmäßigen Motorbooten klandestin nach Europa zu gelangen. Solche illegalen Bootsfahrten sind Teil eines digitalen audiovisuellen Gefüges, das nicht nur gesehen und verbreitet, sondern laufend modifiziert, neu geordnet, weiter entwickelt und angeeignet wird. Dabei verdichtet dieses Gefüge die (Re)Produktion der Abstände zwischen ›Europa‹ und ›Afrika‹ bzw. ihre Überwindung zu einem post/kolonialen Raum der Überquerung des Mittelmeers – nicht zuletzt in (film)historischer Hinsicht. Die aktuellen postmedialen Bilderwelten und sonoren Landschaften sind allerdings offen für eine schier unbegrenzte Anzahl von Assemblagen, die unterschiedliche historische Temporalitäten, Geschwindigkeiten, Bildgedächtnisse, emotionale Tonalitäten von Migrationgeschichte(n) und musikalische Genealogien von Sehnsucht, Armut, (De)Kolonisierung, Fortschritt, sozialem Aufstieg, Konsum sowie von globalen Jugendkulturen seit den 1960er Jahren (migrantisch, postkolonial, maghrebinisch, Chaâbi, Raï, Hip Hop) neu miteinander verfugen und verzeitigen.
Der Vortrag reflektiert diese Kooperationen und Praktiken in einem post-repräsentationalen Sinne als ›Affektik‹ und als Aktualisierung digitaler sowie physischer ›Europa‹-Umgebungen. Insbesondere ausgehend vom Filmen (auf) der Überfahrt ist die Affektik hierbei als ein Experiment im Kontakt mit dem Realen zu begreifen. Differenzierung, Transformation, Wiederholung, Transmission und Affektion sind der Motor. Verbrennen ist der in vivo Code. Harraga zielt weniger auf die Subjektform, sondern insistiert auf der Subjektivität eines Selbstbestimmungsrechts, das zugleich mit der narratologisch rekonstruierbaren Bedeutungskohärenz von Story (Herkunft, Biografie, Reisegeschichte), Person (Identität) sowie deren Dokumentierbarkeit (Papiere, Ausweise) bricht.«
In der anschließenden Sitzung im Rahmen der Sektion »Kulturwissenschaftliche Ästhetik«, die am Freitag, den 7. Oktober 2016 von 16.15–17.30 h stattfindet, wird die in Lüneburg auf dem ersten KWG-Kongress (Kunstraum der Leuphana Universität Lüneburg, 7. November 2015) begonnene Aussprache und Diskussion über die inhaltlichen Schwerpunkte und die konkreten gemeinsamen Veranstaltungen fortsetzen. Dafür ist auf der Webseite der Sektion der Text von Susanne Leeb (Kunstraum der Leuphana Universität Lüneburg) und Ruth Sonderegger (Akademie der bildenden Künste Wien) hochgeladen. Sie reflektieren zum einen die grundsätzliche Verortung der Kulturwissenschaften in der deutschsprachigen Wissenschaftslandschaft, zum anderen pointieren sie in Weiterführung der Impulsvorträge (»Kulturwissenschaftliche Ästhetik«, »Die Macht der Ästhetik«) und der Diskussion mit Ruth Sonderegger im letzten Jahr die spezifischen Aufgaben einer kulturwissenschaftlichen Ästhetik aus der Sicht der cultural studies. Der Text dient als Grundlage, um den Austausch über notwendige inhaltliche Zuspitzungen der Sektion oder auch eine weiter offen gehaltene Breite der Themen und Formate anzustoßen. Darüber hinaus möchte sich die Sektion »Kulturwissenschaftliche Ästhetik« auf dieser Sitzung Gedanken über künftige gemeinsame Veranstaltungen sowie Möglichkeiten der Nachwuchsförderung machen.
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Brigitta Kuster ist Künstlerin, Autorin und Cultural Researcher. Sie studierte an der Hochschule fuer Gestaltung in Luzern (Schweiz) und an der Akademie der Künste Wien, wo sie 2016 auf der Grundlage der Dissertation »Engfügungen. Grenze. Film. Überquerung« promoviert wurde. Ihre Arbeitsschwerpunkte liegen in den Feldern von Video/Film und Visual Studies, zudem bei postkolonialer Theorie, Migrations- und Grenzstudien.
In den Jahren 2002–2005 war sie als Forschungsstipendiatin des Kunstvereins Köln am transdisziplinären Forschungsprojekt TRANSIT MIGRATION des Instituts fuer Europäische Ethnologie und Kulturanthropologie der Universität Frankfurt am Main beteiligt. 2010–2013 forschte sie im Forschungsschwerpunkt »Border crossing« des EU-Projekts »Mig@net – Transnational Digital Networks, Migration and Gender« an der Universität Hamburg. Für ihre künstlerische Arbeit erhielt sie in 2006 und 2010 den Swiss Art Award. Neben zahlreichen Publikationen zählen zu ihren Ausstellungen und künstlerischen Arbeiten u.a. »Rien ne vaut que la vie, mais la vie même ne vaut rien« 2002/2003 (mit Moïse Merlin Mabouna); »Kamera läuft! ein kleines postfordistisches Drama«, 2004 (mit Isabell Lorey, Marion von Osten und Katja Reichard) oder »Choix d’un passé«, eine u.a. filmische Forschung über das Erbe des deutschen kolonialen Projektes in Kamerun und Deutschland, 2006–2016 (mit Moïse Merlin Mabouna); zudem Beteiligungen etwa an: »Rester et partir«, Musée de Bamako, Bamako (2011); »Traces the Sand Left in the Machine«, Forum Expanded, 60. Berlinale, Berlin (2010) oder »Animismus –Revisionen der Moderne«, HKW Berlin (2012).
Gegenwärtig führt Brigitta Kuster ihre Forschung im Bereich des europäischen Grenzregimes und der Biometrisierung von Identitäten on the move weiter. Gemeinsam mit Regina Sarreiter und Dierk Schmidt ist sie auch im Künstlerkollektiv Artefakte tätig, deren jüngstes Projekt »Künstliche Tatsachen« (2014–2015) in Cape Town, Porto-Novo sowie Dresden Station hatte.