Beatrice von Bismarck, Diethelm Stoller, Ulf Wuggenig
Das interdisziplinäre Projekt „Kunstraum der Universität Lüneburg“
Auszug aus: Beatrice von Bismarck, Diethelm Stoller, Ulf Wuggenig: Kunst, Ökologie und nachhaltige Entwicklung. In: Gerd Michelsen (Hg.): Sustainable University – Auf dem Wege zu einem universitätren Agendaprozeß. Verlag für akademische Schriften (VAS): Frankfurt/Main, 2000
1 Der historische Hintergrund und der Kontext des Projekts
Das Projekt “Kunstraum der Universität Lüneburg” wurde Anfang der 90er Jahre im Bereich der Kulturwissenschaften konzipiert und im Jahre 1994, unterstützt durch die Stiftung Niedersachsen (Hannover) formell institutionalisiert. Für die Fortführung des Projekts, das von den Autoren dieses Beitrags, die sich aus drei Disziplinen rekrutieren, geleitet wird, werden beständig Drittmittel eingeworben. In Anknüpfung an Vorstellungen, die im Manifest des Kollegiums des Collège de France 〚1987 〛 über das “Bildungswesen der Zukunft” formuliert wurden, aber auch an die Vorschläge über die Öffnung von Institutionen und Disziplinen, welche die neokonzeptuellen Künstler Clegg & Guttmann 〚1995 〛 einbrachten, besteht eines der allgemeinen Ziele des Projekts in der Überwindung von historisch überkommenen disziplinären Beschränkungen in der Beschäftigung mit Kunst. Im deutschsprachigen Universitätssystem bleiben - im Gegensatz etwa zum angelsächsischen - die zeitgenössische Kunst und der um sie gelagerte intellektuelle Diskurs im wesentlichen ausgegliedert. Die Kunstgeschichte versteht sich als historische Disziplin im strikten Sinne, eine Zeitgeschichte der Kunst ist gewöhnlich nicht vorgesehen. Ein weiteres Merkmal der deutschsprachigen Universität ist die starke Segregation der Geistes- und Sozialwissenschaften, sodass auch kunstsoziologische oder -ökonomische Traditionen, wie sie sich etwa in Frankreich oder den USA herausbilden konnten, hier nicht existieren. Das in die Lehre integrierte Projekt setzte sich deshalb zunächst das Ziel, den Austausch zwischen den drei segregierten Feldern der zeitgenössichen Kunst, der Kunstgeschichte und der Soziologie zu initiieren. Während manche Vertreter der Sozialwissenschaften, wie auch der gegenwärtige Präsident der International Sociological Association 〚vgl. Wallerstein 1995 〛 〚Calhoun 1992 〛 der Auffassung sind, dass z.B. den Grenzen zwischen Disziplinen wie Soziologie, Ökonomik, Politologie und Anthropologie mittlerweile kaum noch eine sachliche Berechtigung zukomme, da das Spektrum zulässiger Themen, Methoden und Theorien innerhalb dieser Disziplinen ungleich größer ist als zwischen ihnen, gilt diese Beschreibung weder für das Verhältnis zwischen Kunst und Soziologie noch für das von Kunstgeschichte und Soziologie. Methodologisch gesehen sind diese Disziplinen durch den Gegensatz von idiographischer und nomothetischer Orientierung getrennt. Stehen z.B. in der Kunstgeschichte die Beschreibung, das Verstehen und die Erklärung des Besonderen (des Einzelwerks, des ouevres, des Künstlers) im Vordergrund, was nicht selten in eine charismatische Hagiographie mündet, so ist die Soziologie eher an der entzaubernden Darstellung von Regel- und Gesetzmäßigkeiten mittlerer oder größerer Reichweite orientiert und verliert dabei oft das Spezifische der künstlerischen Praxis und Produktion aus dem Blick. Beide Disziplinen verdunkeln bestimmte Aspekte der Realität, und beide haben von der anderen etwas zu erfahren, was sich aus dem eigenen Zugang mit seinem Satz an Regeln und Zwängen nicht ergibt.
Als eine weitere (Sub)Disziplin, mit der im Rahmen des Projekts Kunstraum enge Kooperationsbeziehungen eingegangen wurden, kam zunächst die an der Universität Lüneburg angesiedelte Kulturinformatik hinzu, die sich mit den neuen digitalen Medien befaßt. Im Jahre 1997 konnte der Austausch schließlich auf ein größeres Spektrum von (Sub)Disziplinen ausgedehnt werden (Umweltkommunikation, Erziehungswissenschaften, Chemie, Biologie), eingeleitet durch Diskussionen über den Begriff der nachhaltigen Entwicklung, aus denen sich neue interdisziplinäre Kooperationsperspektiven ergaben. In dieses Jahr fiel auch die Entscheidung, den amerikanischen Künstler Dan Peterman, für ein Projekt mit breiter disziplinärer und interdisziplinärer Anschlußfähigkeit an die Universität einzuladen. Peterman schlug ein nomadisches Treibhaus für den Universitätscampus vor, eine partizipatorische Installation, die über zwei Jahre hinweg über den Campus wandert und dabei ihre Funktionen verändert. Die Entscheidung, professionelle Künstler/innen systematisch in die universitäre Lehre und Forschung zu integrieren, verdankt sich nicht zuletzt den Reformvorschlägen des Collège de France 〚1987, S. 278 〛 . Insbesondere war die Anregung wichtig, “wirkliche Kunstschaffende” in die universitäre Lehre einzubinden, nicht nur, um - wie es darin heißt - “den zum Teil sicher unaufhebbaren Unterschied von Kultur und schulischer Bildung in Erinnerung zu bringen”, sondern weil die Kunst der Welt auch spezifische Möglichkeiten anbietet, sich selbst zu beobachten 〚vgl. Luhmann 1995 〛 .
Das Kunstraumprojekt ist eingebettet in einen kulturwissenschaftlichen Studiengang neuen Typs. Genauso wie sich der Kunstraum als diskursiver Ort und realer Ausstellungsraum von den typischen “art galleries” US-amerikanischer Universitäten durch die systematische Integration seines Programms in die universitäre Forschung und Lehre unterscheidet, gibt es auch Differenzen zu den Cultural Studies des angelsächsischen Raums. Die Cultural Studies sind inter- und transdisziplinär orientiert 〚vgl. Nelson & Gaonkar (Hrsg.), 1996 〛 〚During (Hrsg.), 1999 〛 , das Spektrum beschränkt sich dabei aber auf den Bereich der humanities, der Kommunikationswissenschaften und den interpretativ orientierten Flügel der Sozialwissenschaften. Die Kulturwissenschaften, wie sie sich an der Universität Lüneburg in Form des quantitativ größten Studiengangs dieses Typs im deutschsprachigen Raum herausgebildet haben, umfassen in ihrem multidisziplinärem Spektrum hingegen auch nomothetische Disziplinen (Ökonomik) und Spezialisierungen, die sich aus den Natur- bzw. Formalwissenschaften herleiten, wie die Informatik. Ursprünglich war auch die Ökologie Teil des multidisziplinären Spektrums, nach ihrer Auslagerung in einen eigenen Fachbereich Umweltwissenschaften sind mittlerweile wieder Reintegrationsprozesse zwischen den Kultur- und Umweltwissenschaften in Gang gekommen. Das Projekt Agenda 21-Universität Lüneburg und das darin eingebundene Projekt “Treibhaus” sind dafür Beispiele. Im Gegensatz zu dem in den Cultural und Visual Studies verbreiteten kulturellen und ästhetischen Populismus, der in einer Konzentration auf die kommerzielle Populär- bzw. Massenkultur und einer Vernachlässigung der künstlerischen Produktion zum Ausdruck kommt, ist im Lüneburger Modell die Beschäftigung sowohl mit Populärkultur, als auch mit historischer und zeitgenössischer Kunst fester Bestandteil von Forschung und Lehre.
Im Rahmen des Programms des Kunstraums sind seit 1993 regelmäßig internationale Künstler/innen, Architekt/innen, Kurator/innen und Kritiker/innen an der Universität Lüneburg zu Gast. Sie werden zu Vorträgen, zu Werkpräsentationen, zu Lehrveranstaltungen oder zu gemeinsamen Projekten eingeladen. Die Projekte, die nicht den beschleunigten zeitlichen Rhythmen des Kunstfeldes folgen, sondern dem universitären Zeitrahmen und sich deshalb auch über mehrere Semester erstrecken können, werden von interdisziplinären Seminaren begleitet. Sie münden in Ausstellungen, Katalog- und Buchproduktionen, zum Teil auch in permanente Installationen, wie dies in der Vergangenheit z.B. bei einem Projekt mit Christian Boltanski (Paris) und einem Projekt mit Christian Philipp Müller (New York) der Fall war, wobei letzteres die Frage der Identität der Universität und der symbolischen Identifikation der Mitglieder mit ihrer Institution thematisierte. Ein Teil der Projekte wird von empirischer Forschung begleitet bzw. beruht auf qualitativen Feldexperimenten, die von Künstlern konzipiert und wissenschaftlich ausgewertet werden 〚vgl. den Überblick über die Projekte in: von Bismarck, Stoller & Wuggenig 1996 〛 〚1999 〛 .
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2 Kontinuitäten von Kunst und Wissenschaft
Ein geeigneter für die Skizzierung einiger Aspekte des Selbstverständnisses des Projekts Kunstraum ist die soziologische Theorie der Differenzierung in der Tradition von Max Weber. Im kunsttheoretischen Kontext haben z.B. Peter Bürger und Terry Eagleton auf Grundannahmen dieser Theorietradition zurückgegriffen.
Der Begriff der Differenzierung bezieht sich dabei sowohl auf die Herausbildung von Wertsphären mit einer eigenen inneren Logik, als auch auf die Entstehung von entsprechenden institutionalisierten Handlungssystemen, die Autonomie oder zumindest relative Autonomie erlangen. Die stärker philosophisch orientierte Tradition vergegenwärtigt sich den Ausdifferenzierungsprozess gewöhnlich in Anknüpfung an Kant vornehmlich als Auseinandertreten des theoretischen, des praktischen und des ästhetischen Diskurses, also als Trennung von Fragen der Wahrheit, der Moral und des Geschmacks. Der soziologische Diskurs kreist in diesem Zusammenhang eher um Fragen der Autonomisierung des sozialen Systems der Kunst, um die Beziehungen von kulturellen Feldern (wie z.B. Kunst und Wissenschaft etc.) untereinander oder um das Verhältnis zwischen kulturellen, politischen und ökonomischen Subsystemen bzw. Feldern.
Was die Kunst betrifft, so gewinnt diese aus der Sicht der Differenzierungstheoretiker historisch nicht nur relative Unabhängigkeit gegenüber Ökonomie und Politik, sondern versucht sich in ihrer Praxis auch von kognitiven, moralischen und anderen fremdreferentiellen Elementen zu reinigen. Zugleich wird sie, wenn man Habermas (1986) folgt, zur Domäne einer sich zunehmend von Alltagserfahrungen und Lebensweltkontexten entfernenden esoterischen Expertenkultur. Soziologisch gesehen bedeutet dies, dass sie nur eine kleine und privilegierte Region des sozialen Raumes erreicht, und zwar im wesentlichen Teile des “Machtfeldes” sowie das neue Kleinbürgertum mit kulturellem Kapital, um mit Bourdieu 〚1984 〛 zu sprechen.
Nach Eagleton 〚1994, S. 376ff. 〛 stellt sich dieser Ausdifferenzierungsprozess so dar, dass sich die drei großen Gebiete des geschichtlichen Lebens - das Kognitive, das Ethisch-Politische und das Libidinös-Ästhetische - voneinander abgekoppelt haben. Jedes von ihnen wird spezialisiert und kapselt sich in seinen eigenen Raum ein. Die Kunst muß nicht mehr bloß eine Dienerin der politischen Macht sein. Sie darf sich auf ihre eigenen Gesetze verpflichten. Ihre neue Freiheit hat aber keine starke Auswirkung auf andere Gebiete des gesellschaftlichen Lebens. Sie vertritt die marginale Region des Affektiven, des Instinkthaften und des Nicht-Instrumentellen. Eagleton zufolge wird die Kunst damit zu einer isolierten Enklave.
Auch Peter Bürger 〚1974, S. 43ff. 〛 greift in seiner in jüngerer Zeit wieder stärker diskutierten “Theorie der Avantgarde” die Differenzierungstheorie auf, wenn er eine “gesamtgesellschaftliche Tendenz zur Herausdifferenzierung von Teilbereichen bei gleichzeitiger Spezialisierung der Funktionen” diagnostiziert. Mit der Autonomisierung der “Institution” der Kunst gehen gemäß Bürger die Individualisierung der künstlerischer Produktion und die Individualisierung der Rezeption einher. Der Künstler produziert in der bürgerlichen Gesellschaft als Individuum und entwickelt ein Bewußtsein von der Einzigartigkeit seines Tuns. Individualisierte Rezeption heißt im wesentlichen einsame Versenkung in ein Werk, das der Lebenspraxis der Rezipienten entrückt ist. Darin sieht Bürger einen “Erfahrungsschwund”, der an einer spezifischen und verengten “ästhetischen Erfahrung” greifbar wird. Auf der Ebene der Produktion wird im Rahmen des Ästhetizismus die Abgehobenheit von der Lebenspraxis auch zum Inhalt von Werken.
Die vielfach beschriebene Autonomisierung und Abschließung der Kunst geht im 20. Jht. mit teils negativen, teils positiven Reaktionen der Produzent/innen einher. Sie führt zur absichtsvollen Rückwendung der Kunst auf sich selbst und zu stummen Gesten des Widerstandes. Eine solche Kunst erscheint ihren Verfechtern als “nutzlos”, als die einzig verbliebene nicht-verdinglichte, nicht-instrumentalisierte Tätigkeit in einer von der instrumentellen Vernunft beherrschten Gesellschaft. In anderen Strömungen tendiert sie zu Schock und zu Geschmacklosigkeit oder zur Zerstörung von Bedeutung und Sinn, da Sinnlosigkeit in einer Gesellschaft, die alles auf seinen Sinn und Nutzen befragt, besonders schwer zu ertragen ist. Eine weitere Strategie der negativen Avantgarden besteht darin, jeder Anverwandlung und Vereinnahmung zu entgehen, indem keine Objekte mehr produziert werden, oder auch Angebote, die sich im Prozeß des Konsums verbrauchen - wie bei genuinen Dienstleistungen. Was sich im Augenblick seines Konsums verflüchtigt, läßt sich nicht integrieren.
Für die positiven Avantgarden ist hingegen die Einsicht charakteristisch, dass eine negative Ästhetik eine zu schwache Basis ist, um relevante Effekte zu erzielen. Sie versuchen andere Regionen der Gesellschaft vom Ästhetischen aus zu erreichen, die Kunst z.B. wieder an die gesellschaftliche Praxis anzukoppeln.
Bürger blieb im Kunstdiskurs vor allem mit seiner These in Erinnerung, dass die historischen Avantgarden gescheitert seien, wenn auch in heroischer, tragischer Weise. Den Neo-Avantgarden, den postmodernen künstlerischen Strömungen der 60er Jahre, wiederum erteilt er eine Absage, indem er Marx’ Trope von der Wiederholung der Geschichte als Farce bemüht. Mit Blick auf die Kunst der 60er Jahre behauptet er generalisierend, dass “der Anspruch auf eine Rückführung der Kunst in die Lebenspraxis innerhalb der bestehenden Gesellschaft nach dem Scheitern der avantgardistischen Traditionen nicht mehr gestellt werden kann” 〚1974, S. 45 〛 . Innerhalb der bürgerlichen Gesellschaft bzw. kapitalistischer Produktionsverhältnisse sei eine “emanzipatorische” Überführung der Kunst in die Lebenspraxis nicht möglich. Sie könne nur in “falscher Form” übergeführt werden, und zwar “in Form von Unterhaltung, Warenästhetik und Kulturindustrie”.
Bürgers Skepsis gegenüber den Möglichkeiten der künstlerischen Praxis erscheint als übertriebener Fatalismus. In der analytischen Fixierung auf die Produktionsverhältnisse als letzter Determinante der künstlerischen Praxis hat seine These zudem einen reduktionistischen bzw. essentialistischen Beigeschmack.
Dem für Bürger zentralen Begriff der Institution fehlt jene relationale Dimension, wie sie dem Feldbegriff eigen ist. Ein “kulturelles Feld” ist, wie Bennett 〚1979, S. 166f. 〛 hervorhebt, eine Menge von strukturellen Beziehungen, welche die Positionen von verschiedenen Formen kultureller Praxis über ihre wechselseitigen Beziehungen definieren. Sie sind nie über alle Zeiten hinweg fixiert. Genauso wie es keine beständige Grenzlinie zwischen dem Künstlerischen und dem Nichtkünstlerischen gibt, kann z.B. eine überhistorische Grenze zwischen dominanten und oppositionellen, konformistischen und emanzipatorischen Praktiken gezogen werden. Das gleiche gilt für die Frage der Überführbarkeit der Kunst ins Leben. Die Position einer gegebenen Form von kultureller Praxis innerhalb eines gegebenen kulturellen Feldes unterliegt dem Wandel, genauso wie die Rolle, die diese in umfassenderen sozialen Kontexten spielt. Es gibt aus einer feldtheoretischen Perspektive keine Formen der kulturellen Praxis, die intrinsisch und für immer entweder dominant oder oppositionell wären, genauso wenig wie die Möglichkeiten, von der Kunst aus in konformistischer, dissidenter oder emanzipatorischer Form die Lebenspraxis zu erreichen, notwendigerweise an bestimmte Produktionsverhältnisse gebunden sind 〚zum Feldbegriff vgl. insbesondere Bourdieu 1999, S. 340ff. 〛
In denkbar scharfem Gegensatz zu Bürgers Essentialismus und zu manchen differenzierungstheoretischen Positionen, die nicht nur die Ausdifferenzierung der kulturellen Sphären feststellen, sondern sich auch an der Rechtfertigung der behaupteten Grenzen beteiligen, einschließlich derjenigen zwischen “a-rationaler” Kunst und “rationaler” Wissenschaft, steht die Philosophie des Pragmatismus in der Tradition von John Dewey. Sie setzt gegenüber den großen Dualismen wie denen von Geist und Natur, Moral und Leben, Theorie und Praxis und schließlich auch von Kunst und Leben die Kontinuität und die Verbindung 〚vgl. Suhr 1994, S. 75ff. 〛 . Dies gilt weniger für den Neopragmatismus Richard Rortys als für den von Philosophen wie Richard Shusterman 〚1992 〛 oder Soziologen wie Howard S. Becker 〚1992 〛 .
Becker 〚1981 〛 ist zunächst auf Grund seiner Position zum Verhältnis zwischen Kunst und Sozialwissenschaft von Interesse. Vor dem Erfahrungshintergrund seiner Kooperation mit Hans Haacke und seiner Beschäftigung mit verschiedenen Ansätzen der künstlerischen Fotografie betonte Becker die Überschneidung und die Kontinuität, die zwischen bestimmten Formen der sozialen Analyse und bestimmten Formen künstlerischer Praxis besteht.
Eine der gängigen Unterscheidungen zwischen Kunst und Wissenschaft, die auch von Becker aufgegriffen wurde, weist der Wissenschaft die Suche nach der Wahrheit, der Kunst hingegen den ästhetischen Ausdruck von Visionen zu. Handelt es sich bei den künstlerischen Visionen aber nicht oft um eine Suche nach der Wahrheit über die Welt, und beinhalten die wissenschaftlichen Entdeckungen nicht oft starke Elemente persönlicher Vision? Die beiden Unternehmungen sind aus Beckers Sicht letztlich untrennbar vermischt.
Sowohl die Kunst als auch die Wissenschaft folgen Regeln und Konventionen. Sie orientieren sich z.B. an bestimmten Formaten bei der Präsentation ihrer Ergebnisse. Im einen Fall ist dies typischerweise eine Form von Ausstellung innerhalb von Kunstinstitutionen, die von einem Katalog begleitet sein mag oder auch nicht. Im anderen Fall ist dieses Format fast ausnahmslos das Buch oder der Beitrag in der Fachzeitschrift. Für die Wissenschaft sind die klassischen Formate oft unnötig restriktiv.
Der symbolische Interaktionismus Beckers ist keineswegs der einzige prominente wissenschaftliche Zugang, der die Kontinuität von Kunst und Wissenschaft unterstreicht. Der Physiker und Wissenschaftshistoriker Thomas S. Kuhn 〚1992, S. 446ff. 〛 , dessen “Struktur der wissenschaftlichen Revolutionen” das Selbstverständnis der Wissenschaft revolutionierte, geht so weit, zu behaupten, dass die einzige wesentliche Differenz zwischen Kunst und Wissenschaft in deren Verhältnis zur Öffentlichkeit liege. Nur die Kunst, nicht aber die Wissenschaft habe ein Publikum im üblichen Sinn.
Die mit der Theorie von Kuhn in manchen Hinsichten verwandte genealogische Perspektive von Michel Foucault verknüpft Wissen untrennbar mit Macht. Es gibt keine Wahrheit außerhalb von Macht, der Geschichte kommt keine Wahrheit zu, da die Wahrheit selbst eine Geschichte hat. Die zentrale Botschaft der Genealogie besteht darin, dass es so etwas wie Wahrheit nicht gibt, sondern lediglich Regimes der Wahrheit. Aussagen etwa über die soziale Welt oder die Natur sind nur innerhalb spezifischer Diskurse wahr. Die Einbettung in machtgeprägte Diskurse gilt nicht nur für die wissenschaftliche, sondern auch für die künstlerische Produktion, sodass dieser Zugang gleichfalls eine Kontinuität zwischen Kunst und Wissenschaft impliziert 〚vgl. Davidson 1986 〛 .
Beckers Konstruktivismus, der den Relativismus nicht so weit treibt wie Foucaults Genealogie, stellt noch in einer weiteren Hinsicht einen wichtigen Bezugspunkt für das Selbstverständnis des Kunstraumprojekts dar. Bürgers Charakterisierung der künstlerischen Arbeit als “individuelle” Produktion stellt aus der Perspektive von Beckers Theorie nicht den Normalfall, sondern eher einen Grenzfall dar. Künstler/innen stehen gewöhnlich im Zentrum von Netzwerken kooperierender Personen, deren Aktivitäten sich oft auch in den Endprodukten der künstlerischen Arbeit, wie sie z.B. in einer Ausstellung sichtbar werden, niederschlagen. Auch für den Typ künstlerischer Produktion, der nicht auf die Herstellung von Produkten hinausläuft, sondern sich als Prozess-Kunst versteht, spielen die Netzwerke von arbeitsteilig vorgehenden und kooperierenden Akteuren, die Becker als “Kunstwelten” bezeichnet, oft eine wichtige Rolle. Ähnlich wie in der Wissenschaft kommt es selten vor, dass eine Person alles alleine entwickelt und umsetzt, ohne Unterstützung oder Kooperation mit anderen. So gut wie immer findet Arbeitsteilung statt.
Für das Selbstverständnis des Kunstraums der Universität Lüneburg von grundlegender Bedeutung sind somit die Idee der Kontinuität und Überlappung von bestimmten Formen von Wissenschaft und bestimmten Formen von Kunst, gleichgültig ob man dies aus kognitiver oder aus sozialer Perspektive betrachtet. Gesucht wird deshalb die Kooperation mit Künstlerinnen und Künstlern, die nicht nur arbeitsteilig vorgehen, sondern auch Interesse am interdisziplinären Austausch bzw. an einer arbeitsteiligen Produktion mit einem Personenkreis haben, den man in einer Universität typischerweise vorfindet - Wissenschaftler/innen, Lehrende und Studierende aus verschiedenen Fächern und Disziplinen.
Umgekehrt gilt als Voraussetzung für die Einleitung solcher kooperativer Projekte mit Künstler/innen, dass sie interessante Perspektiven erwarten lassen, indem sie z.B. zu neuen Einsichten führen, die Reflexion und Selbstreflexion anregen, das Problembewußtsein schärfen oder Anstöße für die Forschung geben. Genauso wie an der Idee einer Öffnung der Wissenschaft ins Leben in einer nicht technokratisch verkürzten Form festgehalten wird, erscheint auch die Idee der Überschreitung der Grenzen der Kunstenklave innerhalb und außerhalb der Universität nicht als ein Phantasma. Nicht ohne Grund sprechen Soziologen wie Bourdieu 〚1995 〛 oder Galtung 〚1990 〛 entgegen Vorstellungen von der gesellschaftlichen Wirkungslosigkeit der Kunst von der “symbolischen (Gegen)Macht” bzw. der “kulturellen (Gegen)Gewalt”, die die Kunst entfalten kann.
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Quelle: http://www.uni-lueneburg.de
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References
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von Bismarck, Beatrice, Stoller, Diethelm & Wuggenig, Ulf (Hrsg.): Games, Fights, Collaborations. Ostfildern 1996. ⸙
von Bismarck, Beatrice, Stoller, Diethelm & Wuggenig, Ulf: Kunstraum der Universität Lüneburg 1999. ⸙