1 - 1 = 2 Hybert-Marché
Oktober 1994 bis Februar 1995
Mit Fabrice Hybert und Hans Ulrich Obrist
in Kooperation mit dem ARC, Musée d’Art Moderne de la Ville de Paris
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Wer im Glashaus sitzt, der kann mit Steinen werfen. Der Künstler nennt sein Glashaus Aquarium, ein Raum, der durch eine Glaswand von seiner Umgebung abgetrennt ist. Darin zeigt er sein Universum, Zeichnungen, Bilder, Plastiken, Videos. Seine Würfe klirren nicht nur, sein Universum ergießt sich dabei auf die Außenwelt, auf den Supermarkt gleich nebenan, in einen 600 qm großen Raum. Dort sind sie ausgebreitet, die Trophäen unserer Warenwelt, ein gigantischer Strauß, vom ausgestopften Löwen über Musikinstrumente, Haushaltswaren, Büroartikel, Werkzeuge, Kosmetik, Esoterik, Tierzubehör, Scherzartikel, Spielwaren und Schaufensterpuppen bis zu den vom Künstler selbst produzierten Mützen, präsentiert auf hundert extra für diesen Zweck entworfenen Tischen – und können gekauft werden.
Ein Supermarkt im Musée d’Art Moderne de la Ville de Paris. Was auf den ersten Blick nur als Provokation der ehrwürdigen Kunsthallen erscheint, entpuppt sich als nachdenkliches Werk des Künstlers Fabrice Hybert (33), dem Jungstar der französischen Kunstwelt. Eine Welt industriell gefertigter und kommerzialisierter Produkte wird mit der von Fabrice Hybert in seinen Bildern »erfundenen« Dingwelt konfrontiert und muss sich so in Frage stellen lassen. Denn die richtige, die korrekte Welt ist natürlich die des Künstlers. Wo anders kann das Richtige dem Diktat des Möglichen und des Mehrwerts entrinnen?
Die Konfrontation der Kunstwelt mit der Welt des Kommerzes, von künstlerischer Utopie mit real existierender Ware ist nicht nur Thema dieser Ausstellung mit dem »aufschlussreichen« Titel 1-1=2, diese Begegnung, diese Grenzgänge der Kunst beherrschen die gesamte Unternehmung. Um solche Projekte realisieren zu können, hat Fabrice Hybert seine eigene GmbH gegründet – UR s.a.r.l (UR = Unlimited Responsibility; s.a.r.l. = societé à responsabilité limité = GmbH) und die Kunsthistorikerin Anne Marie Lafaige, inzwischen Spezialistin in Fragen der Betriebswirtschaftslehre, als Mitarbeiterin eingestellt. UR ermöglicht auch den Verkauf der ausgestellten Produkte im Museum.
Aber mit seiner Firma UR allein hätte Fabrice Hybert das Projekt nicht realisieren können. Dazu bedurfte es der durch den Kurator Hans Ulrich Obrist vermittelten Zusammenarbeit mit einer ganz anderen Einrichtung, mit dem Kunstraum der Universität Lüneburg.
Das Projekt »Kunstraum der Universität Lüneburg« zielt auf eine in wissenschaftliche Arbeit eingebundene Ausstellungstätigkeit der Universität Lüneburg im Bereich der zeitgenössischen Kunst. Es will ein Forum für einen disziplinübergreifenden Dialog zwischen künstlerischen und wissenschaftlichen Gemeinschaften sein. Die künstlerische Arbeit wird dabei als impulsgebender und zugleich integrierter Bestandteil eines umfassenderen Diskurses verstanden, der durch Begleitveranstaltungen, Forschungsprojekte und eine Publikationsreihe getragen wird. Ausgestellt werden den aktuellen Kunstdiskurs bestimmende Positionen internationaler, zeitgenössischer Kunst. Seminare, Workshops, Vorträge, Werkpräsentationen, Symposien und Diskussionsrunden mit Künstler_innen, Kurator_innen, Kritiker_innen sowie Theoretiker_innen und Wissenschaftler_innen, die sich in ihrer Arbeit auf Kunst bzw. den weiteren Rahmen des ästhetischen Feldes beziehen, bereiten die Ausstellungen vor und begleiten sie. Wissenschaftliche Forschungsprojekte vertiefen wichtige Fragestellungen.
Das »Hybert-Marché«-Projekt begann Mitte Oktober 1994 mit einer Gruppe von 19 Student_innen und ihren Dozent_innen des Kunstraums der Universität Lüneburg. An einer der ersten Wochenend-Gruppensitzungen nahmen Fabrice Hybert und Hans-Ulrich Obrist teil, um dieses ungewöhnliche Projekt zu erläutern.
Sechs verschiedene Arbeiten Hyberts (Patron, Peinture homéopathique 1-5), die in Form von großen Kopien, Ausstellungskatalogen und eines Videotapes vorlagen, bildeten die Grundlage für die studentische Recherchearbeit. Die Bilder bestehen aus gegenständlichen als auch ungegenständlichen Zeichnungen und Malereien und sind unter Verwendung verschiedenster Materialien und Techniken gefertigt worden.
Über die Analyse dieser Bilderwelten Fabrice Hyberts wurden die ihnen entsprechenden konkreten Begriffe assoziiert. Es entstand ein Inventarverzeichnis von über 500 Begriffen und Gegenständen. Diesen teilweise sehr abstrakten Begriffen wurden dann korrespondierende Produkte der realen (Waren-)Welt zugeordnet und klassifiziert. Danach begann die Arbeit des Aufspürens von Herstellerfirmen, der Kontaktaufnahme und des Überzeugens der Firmen, an diesem Projekt teilzunehmen. Die Argumente lassen die Verzahnung der beiden Welten erkennen: Unterstützung eines kulturellen Ereignisses von besonderem Stellenwert, Ausstellung der eigenen Produkte in einem traditionsreichen und international bekannten Kunstort mit hohem symbolischen Kapital in der Kunstwelt, Medienpräsenz der Ausstellung. Konkret musste mit den Firmen geklärt werden: Versicherung der Waren, vertragliche Regelung, Ablauf des Verkaufs in Paris, Verkaufs- und Vertragsmodalitäten, Anzahl der zu liefernden Produkte, Lieferzeitpunkt, Rücktransport, Art der Präsentation der Waren etc. Manche Firmen hatten Tochtergesellschaften in Frankreich und auch speziell in Paris. Dort übernahm Anne Gros Lafaige die Betreuung.
Von ca. 260 Firmen haben im Endeffekt nur 68 mitgemacht, die jedoch insgesamt ca. 500 verschiedene Produkte lieferten, angesichts der Zeitknappheit und des ungünstigen Verhandlungszeitraums (Weihnachten und Neujahr) ein voller Erfolg. Viele Firmen haben ihre Waren gestiftet, aus Begeisterung für die Idee des Projektes, wegen des geringen Warenwerts, der komplizierten Abrechnungsabwicklung (Franc-DM) oder wegen der Höhe der Rücktransportkosten. Auch Firmen, die absagten, fanden das Projekt interessant. Einige bedauerten ihre Entscheidung und versicherten, ein anderes Mal gerne dabei sein zu wollen.
Neben den vom Kunstraumkonzept intendierten Lernprozessen durch die Mitwirkung an der Produktion einer Ausstellung zeitgenössischer Kunst, und zwar in all ihren Realisierungsphasen, brachte dieses Projekt einen zusätzlichen Erfahrungsgewinn für die beteiligten Student_innen: Übung im Umgang mit Personen der Geschäftswelt, das Ausprobieren der eigenen Überzeugungskraft, Berücksichtigung bürokratischer Klauseln und Hindernisse bei internationalen Kunstprojekten, effiziente Verwaltung aller anfallenden Projektdaten und Ruhe bewahren in Stresssituationen. Und natürlich dann das Vergnügen der Unterstützung des Künstlers beim Aufbau des »Hybert-Marchés« direkt vor Ort in Paris.
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Es ist das erste Mal, dass das Musée d’Art Moderne de la Ville de Paris einem so jungen Künstler wie Fabrice Hybert eine Einzelausstellung einrichtet. In Deutschland ist er fast völlig unbekannt, bis auf seine Beteiligung an der von Kasper König (Frankfurt) und Hans Ulrich Obrist (St. Gallen, Paris, London) 1994 kuratierten Ausstellung »Hamburg, Frankfurt, Paris« in den Räumen des Hamburger Kunstvereins. Nun soll Fabrice Hybert auch hierzulande mit möglicherweise einer großen Einzelausstellung an verschiedenen Orten vorgestellt werden. Im Gespräch ist nicht nur eine Fortsetzung des »Hybert-Marché«- Projekts, sondern die Ausgangsbasis für diesen Warenmarkt, das malerische, zeichnerische und plastische Werk des Künstlers, und seine Grenzgänge in die Welt des Kommerzes sowie die zu den Ausstellungen führenden individuellen und kollektiven Produktionsprozesse sollen stärker und plastischer herausgearbeitet werden. Termin: Ende Januar 1996