Henri Lefebvre, der Staat und die sozialen Bewegungen

Vortrag von Klaus Ronneberger
5. Juni 2013

Die Veranstaltung findet im Kontext der Ausstellung »Front, Field, Line, Plane – Researching the Militant Image« von Urban Subjects (Sabine Bitter/Jeff Derksen/Helmut Weber) statt, die bereits in 2009 für das Projekt »Autogestion, or Henri Lefebvre in New Belgrade« mit Klaus Ronneberger kooperierten.

In seinem Vortrag rekonstruiert der Stadtsoziologe Klaus Ronneberger, einer der Autoren der breit rezipierten Schrift »Die Stadt als Beute« (Bonn 1999), Aspekte der Theorie von Henri Lefebvre (1901–1991). Dieser der Praxistheorie zuzurechnende französische Philosoph, Soziologe und Urbanist wurde in Deutschland vor allem über den Band »Critique de la vie quotidienne« bekannt, der in erweiterter Fassung 1958 in Paris erschienen war. Bis heute wirkt dieser Gegenspieler von Louis Althusser, aber auch von Jean-Paul Sartre und Michel Foucault ebenso in akademische Diskurse wie in soziale Bewegungen hinein. Von letzterem zeugen etwa die Aktualität der von ihm in den 1950er Jahren geprägten Formel »Das Recht auf Stadt« sowie die gleichnamigen aktivistischen Initiativen in zahlreichen Städten. Auch auf die Diskurse im Feld der Kunst hatte Lefebvre verschiedentlich Einfluss. So stand er in den 1930er Jahren in intensivem Austausch mit Surrealismus und Dadaismus. »Critique de la vie quotidienne« wurde in den 1950er und 1960er Jahren schließlich zu einer wichtigen intellektuellen Inspiration sowohl der Künstlergruppe COBRA (u.a. Asgar Jorn, Constant, Pierre Alechinsky), als auch der um Guy Debord formierten Situationistischen Internationale.

Alltagsleben und Staat stellen nach Henri Lefebvre zwei unterschiedliche Realitätsebenen dar: Die zweite, staatliche Ebene objektiviert und deformiert die erste. Daher seine durchhaltende Staatskritik und seine Behauptung, dass jedes von der Praxis sich entfernende Denken auf eine Identifikation mit dem Staat hinauslaufe. Lefebvres zentrale These lautet, dass die Rolle des Staates im Kontext der kapitalistischen Globalisierung an Bedeutung gewinnt und nicht – wie oft unterstellt wird – abnimmt. Der Staat ist vielmehr als weltumspannender Prozess zu begreifen, der selbst die Globalisierung, den Weltmarkt, als eine seiner Dimensionen herstellt, und nicht von diesem als Form in Frage gestellt wird. Zugleich sorgt die spezifische Bearbeitung der Widersprüche des Kapitalismus durch den Staat dafür, dass der staatlichen Strategie und Rationalität auf allen Ebenen Widerstände erwachsen: Vor allem in den 1970er Jahre führten die Aktivitäten der verschiedenen sozialen Bewegungen zu einer Transformation des Alltags. Lefebvre verweist in diesem Zusammenhang auf Stadtteilkomitees und Bürgerinitiativen, Zusammenschlüsse von Fraün und Studenten, Ökologie- und Friedensbewegung. Als entscheidendes Mittel – Instrument wie Medium – dieser gesellschaftlichen Umwandlung, gilt Lefebvre die »Autogestion« (Selbstverwaltung), die zugleich nach »direkter Demokratie« verlangt. Lefebvres Analyse führt zu der Erkenntnis, dass die Zivilgesellschaft sich in der Repräsentativverfassung paradoxerweise im und vom Staat repräsentieren lässt. Die Frage ist indes, inwieweit die Annahmen von Lefebvre unter den gegenwärtigen Bedingungen noch zutreffen.