Bildwelten und Wissenssysteme. Die Genese der modernen Naturwissenschaften – Galilei und die Folgen

Horst Bredekamp und Jürgen Renn im Gespräch
30. Juni 2008

Moderation: Dr. Martin Warnke, Kulturinformatik Leuphana Universität Lüneburg

Der Kunsthistoriker Prof. Dr. Horst Bredekamp hat mit seiner 2007 im Akademie Verlag in Berlin erschienenen Studie »Galilei der Künstler – Die Zeichnung, der Mond, die Sonne« einen herausragenden Beitrag zur Frühgeschichte der modernen Wissenschaft geleistet. Er führte am Beispiel von Galilei den Nachweis, dass der Kunst eine wichtige Funktion für die wissenschaftliche Erkenntnistätigkeit zukommt.

Der Wissenschaftshistoriker Prof. Dr. Jürgen Renn, Direktor am MPI für Wissenschaftsgeschichte in Berlin, antwortete auf diese Publikation mit einer bemerkenswerten Besprechung in der FAZ vom 16.11.2007.

Der Kunstraum lädt Sie herzlich ein, an einem wissenschaftlichen Disput über die Rolle der Visualität in der Wissenschaft teilzuhaben. Er findet statt zwischen einem der führenden deutschen Kunst– und Kulturwissenschaftler, Horst Bredekamp, Kunsthistoriker an der Humboldt Universität zu Berlin und Jürgen Renn, namhafter Naturwissenschaftler und Wissenschaftshistoriker, der nach seiner Tätigkeit in den USA (Harvard University, Boston University) seit 1994 als Direktor am Max Planck Institut für Wissenschaftsgeschichte in Berlin tätig ist. In den letzten Jahren ist Renn als Autor von vielbeachteten Studien über Galilei (»Galileo in Kontext«, Cambridge 2001), Einstein und über die »Macht der Bilder« in der Wissenschaft hervorgetreten.

Die beiden Wissenschaftler werden sich einer Frage widmen, die auch in der jüngeren Kreativitätsforschung zunehmend Beachtung gefunden hat: Welche Rolle spielen visuelle Denkstile, visuelle Intelligenz und visuelle Repräsentationen bei wissenschaftlichen Neuerungen und symbolischen Revolutionen?

In der westlichen Wissenschaft wurde seit der u.a. von Kant dargelegten Ausdifferenzierung der verschiedenen Formen der Vernunft die Visualisierung zunehmend abgewertet. In der szientifischen Welt galt und gilt das Wort grundsätzlich mehr als das Bild. In der empirischen Wissenschaft kommt der Zahl und der numerische Repräsentation ein ungleich höherer Stellenwert zu als der graphischen Darstellung. In jüngerer Zeit lässt sich jedoch ein bemerkenswerter Wandel erkennen. Seit rd. 20 Jahren ist eine zunehmende Verbreitung von Bildern etwa in naturwissenschaftlichen Fachzeitschriften zu beobachten. Selbst im szientifischen Flügel der Sozialwissenschaften, der in seiner Orientierung an den Naturwissenschaften eine noch stärkere Abstinenz gegenüber der visuellen (Re)Präsentation zeigt als das Vorbild, finden sich Anzeichen für eine gewisse Auflockerung dieser Haltung. In den Humanwissenschaften wiederum sind neue, an Visualität orientierte Paradigmen entstanden. Im angelsächsischen Wissenschaftsfeld geschah dies in Form der Visual Studies, im deutschsprachigen Raum in Form der Bildwissenschaft(en), die sich dabei nicht selten am Modell des von W.T. Mitchell in den 1990er Jahren ausgerufenen »Iconic turn« orientierten. Es wurden jedoch auch eigenständige Wege verfolgt, wofür die Arbeiten von Horst Bredekamp und Jürgen Renn in exemplarischer Weise stehen. Der Kunstraum hat sich in den letzten Jahren neben der künstlerischen Produktion auch der Bildproduktion der Wissenschaften zugewandt. Das Projekt und die Ausstellung »Atlas« widmeten sich dem Versuch des Philosophen und Ökonomen Otto Neurath (Wiener Kreis), eine universale Bildsprache auf der Grundlage der Metaphysikkritik des logischen Positivismus zu entwickeln. Es folgten Ausstellungen und Symposien zur visuellen Soziologie und Anthropologie von Pierre Bourdieu, die sich in dem demnächst bei Turia+Kant (Wien) erscheinenden Band »Nach Bourdieu: Kunst, Visualität, Politik« niedergeschlagen haben.

Der Disput, zu dem der Kunstraum zwei führende Vertreter einer transdisziplinär orientierten Bildwissenschaft eingeladen hat, widmet sich der Rolle des Bildes bzw. der Visualisierung nicht nur bei der Herausbildung der modernen Wissenschaft, sondern auch im Rahmen der aktuellen wissenschaftlichen Erkenntnis.

Als Ausgangspunkt für den Dialog fungiert eine seit ihrem Erscheinen im Jahre 2007 überaus breit und auch bereits international rezipierte Studie von Horst Bredekamp (vgl. z.B. »Galileis Moon View«, Time Magazine 26.8.2007), die sich auf den Mathematiker, Astronomen und Künstler Galilei bezieht. Sie bildet den Abschluss einer Trilogie über Denker, die nicht nur für Brüche und symbolische Revolutionen in den Feldern von Philosophie, Sozial- und Naturwissenschaften stehen, sondern auch für die starke Beachtung des visuellen Denkens: Thomas Hobbes – Gottfried Wilhelm Leibniz – Galileo Galilei.

Bredekamps Band Galilei der Künstler, in dem unter Einbeziehung eines breiten Bildmaterials u.a. minutiös analysiert wird, wie Mond und Sonne in Galileis Denken zwischen 1610 und 1613 Gestalt annahmen, ist zum einen als ein schwergewichtiger Beitrag zur Galileiana zu lesen. Von größerem Interesse für Nicht-Spezialisten der Galilei-Forschung sind jedoch vielleicht die vorgetragenen Belege für die grundsätzliche erkenntnistheoretische These einer Wechselwirkung von Denkstil und Darstellungsmodus. Bredekamp verdeutlicht am Beispiel Galileis nichts anderes als die wissenschaftlichen Produktivität einer Hybridisierung des Habitus eines Astronomen, eines Mathematikers und eines Künstlers.

Der Rang von Galilei als Naturforscher und Formalwissenschaftler ist bekannt ebenso wie seine Bedeutung als Denker, der u.a. mit seinem berühmten Buch Sidereus Nuncius von 1610 (»Der Sternenbote«), dazu beitrug, die okzidentale Kosmologie zu erschüttern und einen Meilenstein für die Festigung des heliozentrischen Weltbildes zu setzen. Neu und weitreichend ist jedoch Bredekamps Behauptung, dass Galileis zeichnerische Intelligenz grundlegend für seine neue Interpretation der Himmelsphänomene und für die Unterstützung der Schlussfolgerung war, dass die Erde nicht das Zentrum des Universums darstellt. Bredekamps Studie geht weit über Panofskys (»Galileo as a Critic of the Arts«, 1954) Hinweise auf den Einfluss von Galileis ästhetischer Disposition in Zusammenhang mit dessen Ablehnung von Keplers Annahmen über die elliptische Gestalt der Marsbahnen hinaus. Nicht bloß eine allgemeine ästhetische Disposition im Sinne eines nicht-rationalen Präferenzsystems wird von Bredekamp hervorgehoben, sondern es werden die wissenschaftliche Bedeutung des visuellen Denkstils und der zeichnerischen Kompetenzen Galileis unterstrichen.

In Bredekamps Studie wird der Versuch unternommen, nachzuweisen, dass es die Stilformen des tiefgreifend mit technischen und psychomotorischen Voraussetzungen verbundenen »manuellen Denkens« von Galilei waren, die den entscheidenden Unterschied zu den Theorien und Darstellungstechniken der Hauptrivalen im Feld der Astronomie (Hariot in England, Scheiner in Bayern) ausmachten. Wenn Galilei sich der teleskopischen Beobachtung des Mondes und der Sonne widmet, dann sind seine teilweise kürzlich neu entdeckten und von Bredekamp berücksichtigten Zeichnungen nicht bloß dekoratives und illustratives Beiwerk, sondern zentraler Bestandteil von Beobachtung und Beschreibung, Erkenntnisinstrument und Beweismittel zugleich. Die Erkenntnis, dass die Mondoberfläche nicht glatt und rein war, unkorrumpiert durch feste Körper, deren perfekte Form die Harmonie des Kosmos veranschaulicht, verdankte Galilei gemäß dieser Studie der Entwicklung der Perspektive und der adäquaten Repräsentation des Schattenwurfs in der Malerei. Das Teleskop selbst ließ nur die Wahrnehmung von jeweils einem Viertel der Mondoberfläche zu. Erst mit zeichnerischen Mitteln ließ sich das Gesamtphänomen adäquat repräsentieren. Auf diese Weise kam es zur Herausforderung des traditionellen Denkens durch Galilei, da sein neues Bild des Mondes einen radikalen Bruch mit der Sphärentheorie des geozentrischen Systems und mit der aristotelischen Tradition bedeutete.

Jürgen Renn, der – bei grundsätzlicher Sympathie für Bredekamps Anliegen – die Auffassung vertritt, dass über vieles in der Studie noch »gestritten werden kann und muss«, warf in seiner Besprechung der Studie u.a. die Frage nach der Fruchtbarkeit des Rückgriffs auf Ludwig Flecks Begriff des Denkstils auf, verwies auf die Vernachlässigung der geometrischen und mechanischen Zeichnungen von Galilei und auf das Thema der Hagiographie. Eines der über die historischen Recherchen hinausgehenden Hauptziele der Studie sieht er darin, dass etablierte wissenschaftliche Grenzziehungen in Frage gestellt werden, wie etwa die Ausgrenzung von Bildern aus der Wissenschaftsgeschichte oder die schwache Beachtung der Wissensdimension in der Kunstgeschichte.

Prof. Dr. Horst Bredekamp
Professor für Mittlere und Neuere Kunstgeschichte
Senior Speaker des Exzellenzclusters Matters of Activity
www.kunstgeschichte.hu-berlin.de/personen/professorinnen/horst-bredekamp/

Prof. Dr. Jürgen Renn
Gründungsdirektor und Wissenschaftliches Mitglied am Max-Planck-Institut für Wissenschaftsgeschichte
www.mpg.de/331633/wissenschaftsgeschichte-renn