Beatrice von Bismarck, Diethelm Stoller, Ulf Wuggenig
Auszug aus: Beatrice von Bismarck, Diethelm Stoller, Ulf Wuggenig: Kunst, Ökologie und nachhaltige Entwicklung. In: Gerd Michelsen (Hg.): Sustainable University - Auf dem Wege zu einem universitätren Agendaprozeß. Frankfurt/Main 2000
1 Der historische Hintergrund und der Kontext des Projekts
Das Projekt "Kunstraum der Universität Lüneburg"
wurde Anfang der 90er Jahre im Bereich der Kulturwissenschaften konzipiert
und im Jahre 1994, unterstützt durch die Stiftung Niedersachsen (Hannover)
formell institutionalisiert. Für die Fortführung des Projekts,
das von den Autoren dieses Beitrags, die sich aus drei Disziplinen rekrutieren,
geleitet wird, werden beständig Drittmittel eingeworben. In Anknüpfung
an Vorstellungen, die im Manifest des Kollegiums des Collège de
France (1987) über das "Bildungswesen der Zukunft" formuliert
wurden, aber auch an die Vorschläge über die Öffnung von
Institutionen und Disziplinen, welche die neokonzeptuellen Künstler
Clegg & Guttmann (1995) einbrachten, besteht eines der allgemeinen
Ziele des Projekts in der Überwindung von historisch überkommenen
disziplinären Beschränkungen in der Beschäftigung mit Kunst.
Im deutschsprachigen Universitätssystem bleiben - im Gegensatz etwa
zum angelsächsischen - die zeitgenössische Kunst und der um
sie gelagerte intellektuelle Diskurs im wesentlichen ausgegliedert. Die
Kunstgeschichte versteht sich als historische Disziplin im strikten Sinne,
eine Zeitgeschichte der Kunst ist gewöhnlich nicht vorgesehen. Ein
weiteres Merkmal der deutschsprachigen Universität ist die starke
Segregation der Geistes- und Sozialwissenschaften, sodass auch kunstsoziologische
oder -ökonomische Traditionen, wie sie sich etwa in Frankreich oder
den USA herausbilden konnten, hier nicht existieren. Das in die Lehre
integrierte Projekt setzte sich deshalb zunächst das Ziel, den Austausch
zwischen den drei segregierten Feldern der zeitgenössichen Kunst,
der Kunstgeschichte und der Soziologie zu initiieren. Während manche
Vertreter der Sozialwissenschaften, wie auch der gegenwärtige Präsident
der International Sociological Association (vgl. Wallerstein 1995; Calhoun
1992) der Auffassung sind, dass z. B. den Grenzen zwischen Disziplinen
wie Soziologie, Ökonomik, Politologie und Anthropologie mittlerweile
kaum noch eine sachliche Berechtigung zukomme, da das Spektrum zulässiger
Themen, Methoden und Theorien innerhalb dieser Disziplinen ungleich größer
ist als zwischen ihnen, gilt diese Beschreibung weder für das Verhältnis
zwischen Kunst und Soziologie noch für das von Kunstgeschichte und
Soziologie. Methodologisch gesehen sind diese Disziplinen durch den Gegensatz
von idiographischer und nomothetischer Orientierung getrennt. Stehen z.
B. in der Kunstgeschichte die Beschreibung, das Verstehen und die Erklärung
des Besonderen (des Einzelwerks, des ouevres, des Künstlers) im Vordergrund,
was nicht selten in eine charismatische Hagiographie mündet, so ist
die Soziologie eher an der entzaubernden Darstellung von Regel- und Gesetzmäßigkeiten
mittlerer oder größerer Reichweite orientiert und verliert
dabei oft das Spezifische der künstlerischen Praxis und Produktion
aus dem Blick. Beide Disziplinen verdunkeln bestimmte Aspekte der Realität,
und beide haben von der anderen etwas zu erfahren, was sich aus dem eigenen
Zugang mit seinem Satz an Regeln und Zwängen nicht ergibt.
Als eine weitere (Sub)Disziplin, mit der im Rahmen des Projekts Kunstraum
enge Kooperationsbeziehungen eingegangen wurden, kam zunächst die
an der Universität Lüneburg angesiedelte Kulturinformatik hinzu,
die sich mit den neuen digitalen Medien befaßt. Im Jahre 1997 konnte
der Austausch schließlich auf ein größeres Spektrum von
(Sub)Disziplinen ausgedehnt werden (Umweltkommunikation, Erziehungswissenschaften,
Chemie, Biologie), eingeleitet durch Diskussionen über den Begriff
der nachhaltigen Entwicklung, aus denen sich neue interdisziplinäre
Kooperationsperspektiven ergaben. In dieses Jahr fiel auch die Entscheidung,
den amerikanischen Künstler Dan Peterman, für ein Projekt mit
breiter disziplinärer und interdisziplinärer Anschlußfähigkeit
an die Universität einzuladen. Peterman schlug ein nomadisches Treibhaus
für den Universitätscampus vor, eine partizipatorische Installation,
die über zwei Jahre hinweg über den Campus wandert und dabei
ihre Funktionen verändert. Die Entscheidung, professionelle Künstler/innen
systematisch in die universitäre Lehre und Forschung zu integrieren,
verdankt sich nicht zuletzt den Reformvorschlägen des Collège
de France (1987, S. 278). Insbesondere war die Anregung wichtig, "wirkliche
Kunstschaffende" in die universitäre Lehre einzubinden, nicht
nur, um - wie es darin heißt - "den zum Teil sicher unaufhebbaren
Unterschied von Kultur und schulischer Bildung in Erinnerung zu bringen",
sondern weil die Kunst der Welt auch spezifische Möglichkeiten anbietet,
sich selbst zu beobachten (vgl. Luhmann 1995).
Das Kunstraumprojekt ist eingebettet in einen kulturwissenschaftlichen
Studiengang neuen Typs. Genauso wie sich der Kunstraum als diskursiver
Ort und realer Ausstellungsraum von den typischen "art galleries"
US-amerikanischer Universitäten durch die systematische Integration
seines Programms in die universitäre Forschung und Lehre unterscheidet,
gibt es auch Differenzen zu den Cultural Studies des angelsächsischen
Raums. Die Cultural Studies sind inter- und transdisziplinär orientiert
(vgl. Nelson & Gaonkar (Hrsg.) 1996; During (Hrsg.), 1999), das Spektrum
beschränkt sich dabei aber auf den Bereich der humanities, der Kommunikationswissenschaften
und den interpretativ orientierten Flügel der Sozialwissenschaften.
Die Kulturwissenschaften, wie sie sich an der Universität Lüneburg
in Form des quantitativ größten Studiengangs dieses Typs im
deutschsprachigen Raum herausgebildet haben, umfassen in ihrem multidisziplinärem
Spektrum hingegen auch nomothetische Disziplinen (Ökonomik) und Spezialisierungen,
die sich aus den Natur- bzw. Formalwissenschaften herleiten, wie die Informatik.
Ursprünglich war auch die Ökologie Teil des multidisziplinären
Spektrums, nach ihrer Auslagerung in einen eigenen Fachbereich Umweltwissenschaften
sind mittlerweile wieder Reintegrationsprozesse zwischen den Kultur- und
Umweltwissenschaften in Gang gekommen. Das Projekt Agenda 21-Universität
Lüneburg und das darin eingebundene Projekt "Treibhaus"
sind dafür Beispiele. Im Gegensatz zu dem in den Cultural und Visual
Studies verbreiteten kulturellen und ästhetischen Populismus, der
in einer Konzentration auf die kommerzielle Populär- bzw. Massenkultur
und einer Vernachlässigung der künstlerischen Produktion zum
Ausdruck kommt, ist im Lüneburger Modell die Beschäftigung sowohl
mit Populärkultur, als auch mit historischer und zeitgenössischer
Kunst fester Bestandteil von Forschung und Lehre.
Im Rahmen des Programms des Kunstraums sind seit 1993 regelmäßig
internationale Künstler/innen, Architekt/innen, Kurator/innen und
Kritiker/innen an der Universität Lüneburg zu Gast. Sie werden
zu Vorträgen, zu Werkpräsentationen, zu Lehrveranstaltungen
oder zu gemeinsamen Projekten eingeladen. Die Projekte, die nicht den
beschleunigten zeitlichen Rhythmen des Kunstfeldes folgen, sondern dem
universitären Zeitrahmen und sich deshalb auch über mehrere
Semester erstrecken können, werden von interdisziplinären Seminaren
begleitet. Sie münden in Ausstellungen, Katalog- und Buchproduktionen,
zum Teil auch in permanente Installationen, wie dies in der Vergangenheit
z. B. bei einem Projekt mit Christian Boltanski (Paris) und einem Projekt
mit Christian Philipp Müller (New York) der Fall war, wobei letzteres
die Frage der Identität der Universität und der symbolischen
Identifikation der Mitglieder mit ihrer Institution thematisierte. Ein
Teil der Projekte wird von empirischer Forschung begleitet bzw. beruht
auf qualitativen Feldexperimenten, die von Künstlern konzipiert und
wissenschaftlich ausgewertet werden (vgl. den Überblick über
die Projekte in: von Bismarck, Stoller & Wuggenig 1996, 1999).
2 Kontinuitäten von Kunst und Wissenschaft
Ein geeigneter Ausgangspunkt für die Skizzierung einiger Aspekte
des Selbstverständnisses des Projekts Kunstraum ist die soziologische
Theorie der Differenzierung in der Tradition von Max Weber. Im kunsttheoretischen
Kontext haben z. B. Peter Bürger und Terry Eagleton auf Grundannahmen
dieser Theorietradition zurückgegriffen.
Der Begriff der Differenzierung bezieht sich dabei sowohl auf die Herausbildung
von Wertsphären mit einer eigenen inneren Logik, als auch auf die
Entstehung von entsprechenden institutionalisierten Handlungssystemen,
die Autonomie oder zumindest relative Autonomie erlangen. Die stärker
philosophisch orientierte Tradition vergegenwärtigt sich den Ausdifferenzierungsprozess
gewöhnlich in Anknüpfung an Kant vornehmlich als Auseinandertreten
des theoretischen, des praktischen und des ästhetischen Diskurses,
also als Trennung von Fragen der Wahrheit, der Moral und des Geschmacks.
Der soziologische Diskurs kreist in diesem Zusammenhang eher um Fragen
der Autonomisierung des sozialen Systems der Kunst, um die Beziehungen
von kulturellen Feldern (wie z. B. Kunst und Wissenschaft etc.) untereinander
oder um das Verhältnis zwischen kulturellen, politischen und ökonomischen
Subsystemen bzw. Feldern.
Was die Kunst betrifft, so gewinnt diese aus der Sicht der Differenzierungstheoretiker
historisch nicht nur relative Unabhängigkeit gegenüber Ökonomie
und Politik, sondern versucht sich in ihrer Praxis auch von kognitiven,
moralischen und anderen fremdreferentiellen Elementen zu reinigen. Zugleich
wird sie, wenn man Habermas (1986) folgt, zur Domäne einer sich zunehmend
von Alltagserfahrungen und Lebensweltkontexten entfernenden esoterischen
Expertenkultur. Soziologisch gesehen bedeutet dies, dass sie nur eine
kleine und privilegierte Region des sozialen Raumes erreicht, und zwar
im wesentlichen Teile des "Machtfeldes" sowie das neue Kleinbürgertum
mit kulturellem Kapital, um mit Bourdieu (1984) zu sprechen.
Nach Eagleton (1994, S. 376ff.) stellt sich dieser Ausdifferenzierungsprozess
so dar, dass sich die drei großen Gebiete des geschichtlichen Lebens
- das Kognitive, das Ethisch-Politische und das Libidinös-Ästhetische
- voneinander abgekoppelt haben. Jedes von ihnen wird spezialisiert und
kapselt sich in seinen eigenen Raum ein. Die Kunst muß nicht mehr
bloß eine Dienerin der politischen Macht sein. Sie darf sich auf
ihre eigenen Gesetze verpflichten. Ihre neue Freiheit hat aber keine starke
Auswirkung auf andere Gebiete des gesellschaftlichen Lebens. Sie vertritt
die marginale Region des Affektiven, des Instinkthaften und des Nicht-Instrumentellen.
Eagleton zufolge wird die Kunst damit zu einer isolierten Enklave.
Auch Peter Bürger (1974, S. 43ff.) greift in seiner in jüngerer
Zeit wieder stärker diskutierten "Theorie der Avantgarde"
die Differenzierungstheorie auf, wenn er eine "gesamtgesellschaftliche
Tendenz zur Herausdifferenzierung von Teilbereichen bei gleichzeitiger
Spezialisierung der Funktionen" diagnostiziert. Mit der Autonomisierung
der "Institution" der Kunst gehen gemäß Bürger
die Individualisierung der künstlerischer Produktion und die Individualisierung
der Rezeption einher. Der Künstler produziert in der bürgerlichen
Gesellschaft als Individuum und entwickelt ein Bewußtsein von der
Einzigartigkeit seines Tuns. Individualisierte Rezeption heißt im
wesentlichen einsame Versenkung in ein Werk, das der Lebenspraxis der
Rezipienten entrückt ist. Darin sieht Bürger einen "Erfahrungsschwund",
der an einer spezifischen und verengten "ästhetischen Erfahrung"
greifbar wird. Auf der Ebene der Produktion wird im Rahmen des Ästhetizismus
die Abgehobenheit von der Lebenspraxis auch zum Inhalt von Werken.
Die vielfach beschriebene Autonomisierung und Abschließung der Kunst
geht im 20. Jht. mit teils negativen, teils positiven Reaktionen der Produzent/innen
einher. Sie führt zur absichtsvollen Rückwendung der Kunst auf
sich selbst und zu stummen Gesten des Widerstandes. Eine solche Kunst
erscheint ihren Verfechtern als "nutzlos", als die einzig verbliebene
nicht-verdinglichte, nicht-instrumentalisierte Tätigkeit in einer
von der instrumentellen Vernunft beherrschten Gesellschaft. In anderen
Strömungen tendiert sie zu Schock und zu Geschmacklosigkeit oder
zur Zerstörung von Bedeutung und Sinn, da Sinnlosigkeit in einer
Gesellschaft, die alles auf seinen Sinn und Nutzen befragt, besonders
schwer zu ertragen ist. Eine weitere Strategie der negativen Avantgarden
besteht darin, jeder Anverwandlung und Vereinnahmung zu entgehen, indem
keine Objekte mehr produziert werden, oder auch Angebote, die sich im
Prozeß des Konsums verbrauchen - wie bei genuinen Dienstleistungen.
Was sich im Augenblick seines Konsums verflüchtigt, läßt
sich nicht integrieren.
Für die positiven Avantgarden ist hingegen die Einsicht charakteristisch,
dass eine negative Ästhetik eine zu schwache Basis ist, um relevante
Effekte zu erzielen. Sie versuchen andere Regionen der Gesellschaft vom
Ästhetischen aus zu erreichen, die Kunst z. B. wieder an die gesellschaftliche
Praxis anzukoppeln.
Bürger blieb im Kunstdiskurs vor allem mit seiner These in Erinnerung,
dass die historischen Avantgarden gescheitert seien, wenn auch in heroischer,
tragischer Weise. Den Neo-Avantgarden, den postmodernen künstlerischen
Strömungen der 60er Jahre, wiederum erteilt er eine Absage, indem
er Marx' Trope von der Wiederholung der Geschichte als Farce bemüht.
Mit Blick auf die Kunst der 60er Jahre behauptet er generalisierend, dass
"der Anspruch auf eine Rückführung der Kunst in die Lebenspraxis
innerhalb der bestehenden Gesellschaft nach dem Scheitern der avantgardistischen
Traditionen nicht mehr gestellt werden kann" (Bürger 1974, S.
45). Innerhalb der bürgerlichen Gesellschaft bzw. kapitalistischer
Produktionsverhältnisse sei eine "emanzipatorische" Überführung
der Kunst in die Lebenspraxis nicht möglich. Sie könne nur in
"falscher Form" übergeführt werden, und zwar "in
Form von Unterhaltung, Warenästhetik und Kulturindustrie".
Bürgers Skepsis gegenüber den Möglichkeiten der künstlerischen
Praxis erscheint als übertriebener Fatalismus. In der analytischen
Fixierung auf die Produktionsverhältnisse als letzter Determinante
der künstlerischen Praxis hat seine These zudem einen reduktionistischen
bzw. essentialistischen Beigeschmack.
Dem für Bürger zentralen Begriff der Institution fehlt jene
relationale Dimension, wie sie dem Feldbegriff eigen ist. Ein "kulturelles
Feld" ist, wie Bennett (1979, S. 166f.) hervorhebt, eine Menge von
strukturellen Beziehungen, welche die Positionen von verschiedenen Formen
kultureller Praxis über ihre wechselseitigen Beziehungen definieren.
Sie sind nie über alle Zeiten hinweg fixiert. Genauso wie es keine
beständige Grenzlinie zwischen dem Künstlerischen und dem Nichtkünstlerischen
gibt, kann z. B. eine überhistorische Grenze zwischen dominanten
und oppositionellen, konformistischen und emanzipatorischen Praktiken
gezogen werden. Das gleiche gilt für die Frage der Überführbarkeit
der Kunst ins Leben. Die Position einer gegebenen Form von kultureller
Praxis innerhalb eines gegebenen kulturellen Feldes unterliegt dem Wandel,
genauso wie die Rolle, die diese in umfassenderen sozialen Kontexten spielt.
Es gibt aus einer feldtheoretischen Perspektive keine Formen der kulturellen
Praxis, die intrinsisch und für immer entweder dominant oder oppositionell
wären, genauso wenig wie die Möglichkeiten, von der Kunst aus
in konformistischer, dissidenter oder emanzipatorischer Form die Lebenspraxis
zu erreichen, notwendigerweise an bestimmte Produktionsverhältnisse
gebunden sind (zum Feldbegriff vgl. insbesondere Bourdieu 1999, S. 340ff.)
In denkbar scharfem Gegensatz zu Bürgers Essentialismus und zu manchen
differenzierungstheoretischen Positionen, die nicht nur die Ausdifferenzierung
der kulturellen Sphären feststellen, sondern sich auch an der Rechtfertigung
der behaupteten Grenzen beteiligen, einschließlich derjenigen zwischen
"a-rationaler" Kunst und "rationaler" Wissenschaft,
steht die Philosophie des Pragmatismus in der Tradition von John Dewey.
Sie setzt gegenüber den großen Dualismen wie denen von Geist
und Natur, Moral und Leben, Theorie und Praxis und schließlich auch
von Kunst und Leben die Kontinuität und die Verbindung (vgl. Suhr
1994, S. 75ff.). Dies gilt weniger für den Neopragmatismus Richard
Rortys als für den von Philosophen wie Richard Shusterman (1992)
oder Soziologen wie Howard S. Becker (1992).
Becker (1981) ist zunächst auf Grund seiner Position zum Verhältnis
zwischen Kunst und Sozialwissenschaft von Interesse. Vor dem Erfahrungshintergrund
seiner Kooperation mit Hans Haacke und seiner Beschäftigung mit verschiedenen
Ansätzen der künstlerischen Fotografie betonte Becker die Überschneidung
und die Kontinuität, die zwischen bestimmten Formen der sozialen
Analyse und bestimmten Formen künstlerischer Praxis besteht.
Eine der gängigen Unterscheidungen zwischen Kunst und Wissenschaft,
die auch von Becker aufgegriffen wurde, weist der Wissenschaft die Suche
nach der Wahrheit, der Kunst hingegen den ästhetischen Ausdruck von
Visionen zu. Handelt es sich bei den künstlerischen Visionen aber
nicht oft um eine Suche nach der Wahrheit über die Welt, und beinhalten
die wissenschaftlichen Entdeckungen nicht oft starke Elemente persönlicher
Vision ? Die beiden Unternehmungen sind aus Beckers Sicht letztlich untrennbar
vermischt.
Sowohl die Kunst als auch die Wissenschaft folgen Regeln und Konventionen.
Sie orientieren sich z. B. an bestimmten Formaten bei der Präsentation
ihrer Ergebnisse. Im einen Fall ist dies typischerweise eine Form von
Ausstellung innerhalb von Kunstinstitutionen, die von einem Katalog begleitet
sein mag oder auch nicht. Im anderen Fall ist dieses Format fast ausnahmslos
das Buch oder der Beitrag in der Fachzeitschrift. Für die Wissenschaft
sind die klassischen Formate oft unnötig restriktiv.
Der symbolische Interaktionismus Beckers ist keineswegs der einzige prominente
wissenschaftliche Zugang, der die Kontinuität von Kunst und Wissenschaft
unterstreicht. Der Physiker und Wissenschaftshistoriker Thomas S. Kuhn
(1992, S. 446ff.), dessen "Struktur der wissenschaftlichen Revolutionen"
das Selbstverständnis der Wissenschaft revolutionierte, geht so weit,
zu behaupten, dass die einzige wesentliche Differenz zwischen Kunst und
Wissenschaft in deren Verhältnis zur Öffentlichkeit liege. Nur
die Kunst, nicht aber die Wissenschaft habe ein Publikum im üblichen
Sinn.
Die mit der Theorie von Kuhn in manchen Hinsichten verwandte genealogische
Perspektive von Michel Foucault verknüpft Wissen untrennbar mit Macht.
Es gibt keine Wahrheit außerhalb von Macht, der Geschichte kommt
keine Wahrheit zu, da die Wahrheit selbst eine Geschichte hat. Die zentrale
Botschaft der Genealogie besteht darin, dass es so etwas wie Wahrheit
nicht gibt, sondern lediglich Regimes der Wahrheit. Aussagen etwa über
die soziale Welt oder die Natur sind nur innerhalb spezifischer Diskurse
wahr. Die Einbettung in machtgeprägte Diskurse gilt nicht nur für
die wissenschaftliche, sondern auch für die künstlerische Produktion,
sodass dieser Zugang gleichfalls eine Kontinuität zwischen Kunst
und Wissenschaft impliziert (vgl. Davidson 1986).
Beckers Konstruktivismus, der den Relativismus nicht so weit treibt wie
Foucaults Genealogie, stellt noch in einer weiteren Hinsicht einen wichtigen
Bezugspunkt für das Selbstverständnis des Kunstraumprojekts
dar. Bürgers Charakterisierung der künstlerischen Arbeit als
"individuelle" Produktion stellt aus der Perspektive von Beckers
Theorie nicht den Normalfall, sondern eher einen Grenzfall dar. Künstler/innen
stehen gewöhnlich im Zentrum von Netzwerken kooperierender Personen,
deren Aktivitäten sich oft auch in den Endprodukten der künstlerischen
Arbeit, wie sie z. B. in einer Ausstellung sichtbar werden, niederschlagen.
Auch für den Typ künstlerischer Produktion, der nicht auf die
Herstellung von Produkten hinausläuft, sondern sich als Prozess-Kunst
versteht, spielen die Netzwerke von arbeitsteilig vorgehenden und kooperierenden
Akteuren, die Becker als "Kunstwelten" bezeichnet, oft eine
wichtige Rolle. Ähnlich wie in der Wissenschaft kommt es selten vor,
dass eine Person alles alleine entwickelt und umsetzt, ohne Unterstützung
oder Kooperation mit anderen. So gut wie immer findet Arbeitsteilung statt.
Für das Selbstverständnis des Kunstraums der Universität
Lüneburg von grundlegender Bedeutung sind somit die Idee der Kontinuität
und Überlappung von bestimmten Formen von Wissenschaft und bestimmten
Formen von Kunst, gleichgültig ob man dies aus kognitiver oder aus
sozialer Perspektive betrachtet. Gesucht wird deshalb die Kooperation
mit Künstlerinnen und Künstlern, die nicht nur arbeitsteilig
vorgehen, sondern auch Interesse am interdisziplinären Austausch
bzw. an einer arbeitsteiligen Produktion mit einem Personenkreis haben,
den man in einer Universität typischerweise vorfindet - Wissenschaftler/innen,
Lehrende und Studierende aus verschiedenen Fächern und Disziplinen.
Umgekehrt gilt als Voraussetzung für die Einleitung solcher kooperativer
Projekte mit Künstler/innen, dass sie interessante Perspektiven erwarten
lassen, indem sie z. B. zu neuen Einsichten führen, die Reflexion
und Selbstreflexion anregen, das Problembewußtsein schärfen
oder Anstöße für die Forschung geben. Genauso wie an der
Idee einer Öffnung der Wissenschaft ins Leben in einer nicht technokratisch
verkürzten Form festgehalten wird, erscheint auch die Idee der Überschreitung
der Grenzen der Kunstenklave innerhalb und außerhalb der Universität
nicht als ein Phantasma. Nicht ohne Grund sprechen Soziologen wie Bourdieu
(1995) oder Galtung (1990) entgegen Vorstellungen von der gesellschaftlichen
Wirkungslosigkeit der Kunst von der "symbolischen (Gegen)Macht"
bzw. der "kulturellen (Gegen)Gewalt", die die Kunst entfalten
kann.
Literatur
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- Bourdieu, Pierre: Die Regeln der Kunst. Frankfurt / Main 1999.
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Stuttgart 1987, S. 253-282.
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Ilya, Taylor, Peter J., Trouillot, Michel-Rolph: Die Sozialwissenschaften
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Quelle: http://www.uni-lueneburg.de/fb3/kunst/kunstraum/texte/kunstraum.html